Übergestern in Japan: Überstunden für Slartibartfast

Auch wenn einige immer noch „Fake News!“ rufen schuf Gott die Erde in sechs Tagen. Ihm ging es so wie uns allen, wenn wir irgendetwas komplizierteres von Lego aufbauen: Alles ist fertig, prima, aber warum liegen da noch so viele Teile rum? Und so hatte Gott am siebten Tag noch jede Menge Hügel, Schluchten, Abhänge und Böschungen übrig. Einen großen Teil verbaute er am Sonntag Vormittag und komplizierte damit unnötig die Küstenlinie Norwegens, den Rest schmiss er nach Shuzenji in Japan. Zur Sicherheit baute er noch einen hohen Zaun um die Gegend und alle 100 Meter hängte er Schilder auf, auf denen „Menschheit! Betretet nicht dieses Gebiet! Und denkt schon gar nicht daran hier Rad zu fahren!“ stand. Aber dann war auch mal Schluss, es war schon fast Mittag und er war noch zum brunchen eingeladen.

Die folgenden 3,5 Milliarden Jahre lief auch alles gut. Alle intelligenten Lebewesen, sei es Einzeller, Amphibien, Reptilien oder Känguruhs hielten sich schön weit weg von Shuzenji entfernt. Und auch die ersten Menschen waren mehr damit beschäftigt Mammuts zu jagen, Höhlen zu bemalen und für Nachwuchs zu sorgen, als über KOMs nachzudenken. Doch mit der Erfindung des Rades ging es dann ziemlich schnell bergab. Das heißt eigentlich: bergauf.

Die ersten Japaner tauchten auf, und da in und um Tokyo herum schon mehr als 30 Millionen von ihnen lebten und da wirklich kein Platz mehr war, fiel die Wahl für den Bau eines Radsportleistungszentrum mit Trainingsrennen naturgemäß auf Shuzenji. Das klingt vielleicht überraschend für jemand, der noch nie in einem japanischen Meeting saß, aber alle die mal da waren nicken jetzt nur zustimmend mit ihren Köpfen und lächeln leise vor sich hin.

„Hey Gott“, so ungefähr geht das Argument, „das war ja alles gut und richtig was Du Dir da vor Milliarden von Jahren ausgedacht hast, aber hey, wir haben 2008 und 10-Gang Shimano Di2 Schaltungen, Carbonsättel die 70 Gramm wiegen und Lightweight Carbon Laufräder – daran haste nicht gedacht, stimmts?“

Hey Gott, daran haste nicht gedacht, stimmt’s?

2002 war es dann so weit, das Cycle Sports Center Shuzenji wurde eröffnet, komplett mit Sportschule für die Ausbildung der Keirin Rennfahrern, 5 km Rennradstrecke, MTB Trail und einem Freizeitpark. Aber nicht nur das, an acht Mal im Jahr gibt es Kurse für Frauen die nicht Radfahren können mit einer Erfolgsquote von 99,9% – und das 2022. Kurz gesagt, Shuzenji ist ein Traum für Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen.

Leider hatte die JCRC entschieden zwei seiner Rennen in Shuzenji auszutragen, so dass ich gezwungen war Im Frühjahr 2008 dahin zu fahren, über den Zaun zu klettern und Gottes Gebote diesbezüglich zu missachten. Also machte ich mich eines morgens sehr früh auf den Weg um die 140 km von Tokyo nach Shuzenji zu fahren. 140 km in Japan sind nicht wie 140 km in Deutschland – jedenfalls fühlen sich die sehr viel länger an, vor allem auf den engen Landstraßen, die durch die hügelige Izu-Halbinsel führen auf der Shuzenji liegt. Und erstaunlicherweise sind um diese Zeit schon unglaublich viele Autos unterwegs; das liegt an dem statistischen Gesetz der großen Zahlen.

Ein noch so kleiner Prozentsatz, multipliziert mit einer großen Zahl ergib eine immer noch beachtlich große Zahl; man muss jetzt nicht Ingenieurwesen an der RWTH Aachen studiert haben, um das zu verstehen – aber was bedeutet das im echten Leben? Im echten Leben wurde mir das zum ersten Mal bewusst, als ich mich eines Abends mit einem Freund zusammen in Tokyo entschloss zu einem Kino zu fahren, um dort eine Reihe „Experimenteller Stummfilme des Dadaismus der Zwanziger Jahre aus Frankreich“ zu sehen. Eine solche Veranstaltung, zum Beispiel in Mönchengladbach durchgeführt, würde vermutlich zwei Kunststudenten anlocken von denen der eine in letzter Minute absagt. Klar, Mönchengladbach hat ja auch nur 150.000 Einwohner (Rheydt nicht mitgezählt, doch dazu später). In Tokyo und herum, mit 30 Millionen Einwohner gibt es aber durchaus genügend Japaner die sich so etwas antun. Und so war das Kino dann auch konsequenterweise ausverkauft, als wir ankamen.

Einige Jahre später fuhr ich mit meinem Sohn auf dem Anhänger am Fluss Tamagawa heraus aus Tokyo, als über den Fluss eine amerikanische Militärmaschine Richtung des Luftwaffenstützpunktes Yokota (dort wo es keine Räder gibt) flog. Hm, dachte ich, das wäre doch mal eine tolle Idee am nächsten Wochenende mit meinem Sohn zur Einflugschneise zu fahren und Flugzeuge anzuschauen. Gesagt, getan. Am nächsten Sonntag machten wir uns auf und fuhren mit Bahn und Taxi zur Airbase. Als wir ankamen dachte ich zunächst da wäre eine Demo in der Einflugschneise, denn da standen Massen von Japanern herum. Aber nein, das waren einfach Japaner die die gleiche Idee wie wir hatten und zum gleichen Zeitpunkt nach Yokota gekommen waren. Einige hatten ihre Familien mitgebracht und grillten, andere standen auf Leitern, um die Flugzeuge über dem Zaun besser fotografieren zu können. Einer erzählte mir, dass gleich eine Transportmaschine aus Pusan, Korea ankommen würde. Woher er das wusste? Er hatte einen Kurzwellenempfänger dabei mit dem er den Tower abhörte. Kurzum, ich dachte ich hätte eine ganz tolle Idee gehabt und wäre bestimmt der einzige Mensch in Tokyo dem so etwas tolles einfällt. Sind aber 30 Millionen Menschen um einen herum, wird das auch noch dem einen oder anderen einfallen und ein Volksfest daraus. Das ist das Gesetz der großen Zahlen.

Yokota Plane Spotiing – Meine Idee!

Und so sind dann eben morgens um vier schon unzählige Autos auf den Straßen von Tokyo unterwegs und ja, Gesetz der großen Zahlen, viele davon eben auch nach Shuzenji und es geht nicht so schnell vorwärts, wie ich mir das in meiner Nervösität gewünscht hätte.

In der D Klasse fing das Rennen kurz vor 8 Uhr an. Der Kurs selber ist 5 km lang und kann im, oder auch gegen den Uhrzeigersinn gefahren werden, dabei wird insgesamt ein Höhenunterschied von 140 Meter zurückgelegt. Bei diesem Rennen sollten nun drei Runden im Uhrzeigersinn gefahren werden; nach dem Start geht es auf der breiten Zielgerade zunächst einmal 30 Meter hoch und dann halsbrecherisch mit hohem Tempo über viele technische Kurven1,8 km runter. Ganz unten angekommen gibt es dann einen etwa 1,5 km langen Anstieg mit 70 Höhenmeter, bevor es dann wieder kurz runter in ein Tal geht. Danach beginnt dann der letzte Anstieg über 500 Meter zum Ziel. Wenn ich das hier so schreibe, dann klingt das so einfach: drei Runden sind auch nur 15 km und etwa 420 Höhenmeter – aber dieser Kurs ist wirklich die Hölle. Zum Glück waren nur drei Runden angesetzt, so dass die Gefahr einer Überrundung nicht besonders groß war. Ich musste nur das Ding zu Ende fahren und dann konnte ich wieder 60 Punkte mit nach Hause nehmen.

Am Start stand ich dann mal wieder hypernervös mit 27 Japanern und stellte fest, dass ich wahrscheinlich einer der Ältesten im Feld war. Vor mir stand ein, wie ich nachher herausfand, vierzehnjähriger Knirps der – Spoiler Alert – das Rennen gewinnen sollte. Egal, sobald der Startschuss ertönte war jede Nervösität weg, denn ich brauchte jedes Energiepaket, das in meinem Körper vorhanden war, um am Feld zu bleiben und den ersten Berg hoch zu kommen. Das schaffte ich unter völliger Verausgabung, auch wenn ich mich fast ganz am Ende des Feldes befand und wir begaben uns auf die lange Abfahrt. Hier habe ich gewisse Vorteile, denn Masse rollt gut, so dass ich keinerlei Mühe hatte die Position zu halten, bis wir ganz unten im Tal auf dem tiefsten Punkt der Strecke ankamen. Aber als nun das Feld den Anstieg begann war alles vorbei; ich konnte nur noch zusehen, wie sich auch der zweitschlechteste Fahrer zügig von mir in Richtung Ziel entfernte. So gut es ging strengte ich mich an den Berg hoch, und wieder runter zu kommen, aber als ich nach der ersten Runde im Ziel ankam war das Feld nicht mehr zu sehen und die wenigen Zuschauer sahen mich mit einer Mischung aus Mitleid und peinlicher Berührung an. Gut, dann noch eine Runde erst kurz hoch und dann wieder in die Abfahrt. Ich musste jetzt nur noch die zweite Runde beenden und nicht überrundet werden; also strengte ich mich auf dem langen Anstieg voll an und schaute mich immer wieder um nach dem Motorrad, dass die Rennspitze ankündigt. Aber da war zum Glück nichts. Nachher konnte ich nachlesen, dass sich die Spitze mit mehr als 31 km/h um den Kurs bewegte, während ich gerade mal mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 24 km/h um jeden Meter kämpfte. Aber das reichte eben auch. Die dritte Runde ließ ich dann deutlich langsamer angehen, ich musste ja nur noch heil ins Ziel kommen. Ich sah einen abgehängten Fahrer aus dem Feld vom Team „Spade Ace“ – das ist japanische für „Ace of Spade“ oder Pik As – aber selbst einen demotivierten, abgehängten Fahrer konnte ich nicht mehr einholen und rollte so über den Zielstrich.

Ergebnis: 25. von 25 Teilnehmern die das Rennen beendeten – immerhin drei hatten unterwegs aufgegeben. Ich fuhr nach Hause und mein Sohn fragte mich, welche Platz ich beim Rennen belegt hätte und ich sagte wahrheitsgemäß, dass ich Letzter geworden wäre. Da ich dies in den nächsten Wochen öfters sagen durfte entwickelte mein Sohn vermutlich nie einen sportlichen Ehrgeiz, denn ihm wurde klar, dass das ganze trainieren und üben total sinnlos ist – weil man ohnehin nur Letzter wird. Genau wie ohne jedes Training.

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