Auch wenn einige immer noch „Fake News!“ rufen schuf Gott die Erde in sechs Tagen. Ihm ging es so wie uns allen, wenn wir irgendetwas komplizierteres von Lego aufbauen: Alles ist fertig, prima, aber warum liegen da noch so viele Teile rum? Und so hatte Gott am siebten Tag noch jede Menge Hügel, Schluchten, Abhänge und Böschungen übrig. Einen großen Teil verbaute er am Sonntag Vormittag und komplizierte damit unnötig die Küstenlinie Norwegens, den Rest schmiss er nach Shuzenji in Japan. Zur Sicherheit baute er noch einen hohen Zaun um die Gegend und alle 100 Meter hängte er Schilder auf, auf denen „Menschheit! Betretet nicht dieses Gebiet! Und denkt schon gar nicht daran hier Rad zu fahren!“ stand. Aber dann war auch mal Schluss, es war schon fast Mittag und er war noch zum brunchen eingeladen.
Die folgenden 3,5 Milliarden Jahre lief auch alles gut. Alle intelligenten Lebewesen, sei es Einzeller, Amphibien, Reptilien oder Känguruhs hielten sich schön weit weg von Shuzenji entfernt. Und auch die ersten Menschen waren mehr damit beschäftigt Mammuts zu jagen, Höhlen zu bemalen und für Nachwuchs zu sorgen, als über KOMs nachzudenken. Doch mit der Erfindung des Rades ging es dann ziemlich schnell bergab. Das heißt eigentlich: bergauf.
Die ersten Japaner tauchten auf, und da in und um Tokyo herum schon mehr als 30 Millionen von ihnen lebten und da wirklich kein Platz mehr war, fiel die Wahl für den Bau eines Radsportleistungszentrum mit Trainingsrennen naturgemäß auf Shuzenji. Das klingt vielleicht überraschend für jemand, der noch nie in einem japanischen Meeting saß, aber alle die mal da waren nicken jetzt nur zustimmend mit ihren Köpfen und lächeln leise vor sich hin.
„Hey Gott“, so ungefähr geht das Argument, „das war ja alles gut und richtig was Du Dir da vor Milliarden von Jahren ausgedacht hast, aber hey, wir haben 2008 und 10-Gang Shimano Di2 Schaltungen, Carbonsättel die 70 Gramm wiegen und Lightweight Carbon Laufräder – daran haste nicht gedacht, stimmts?“
Hey Gott, daran haste nicht gedacht, stimmt’s?
2002 war es dann so weit, das Cycle Sports Center Shuzenji wurde eröffnet, komplett mit Sportschule für die Ausbildung der Keirin Rennfahrern, 5 km Rennradstrecke, MTB Trail und einem Freizeitpark. Aber nicht nur das, an acht Mal im Jahr gibt es Kurse für Frauen die nicht Radfahren können mit einer Erfolgsquote von 99,9% – und das 2022. Kurz gesagt, Shuzenji ist ein Traum für Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen.
Leider hatte die JCRC entschieden zwei seiner Rennen in Shuzenji auszutragen, so dass ich gezwungen war Im Frühjahr 2008 dahin zu fahren, über den Zaun zu klettern und Gottes Gebote diesbezüglich zu missachten. Also machte ich mich eines morgens sehr früh auf den Weg um die 140 km von Tokyo nach Shuzenji zu fahren. 140 km in Japan sind nicht wie 140 km in Deutschland – jedenfalls fühlen sich die sehr viel länger an, vor allem auf den engen Landstraßen, die durch die hügelige Izu-Halbinsel führen auf der Shuzenji liegt. Und erstaunlicherweise sind um diese Zeit schon unglaublich viele Autos unterwegs; das liegt an dem statistischen Gesetz der großen Zahlen.
Ein noch so kleiner Prozentsatz, multipliziert mit einer großen Zahl ergib eine immer noch beachtlich große Zahl; man muss jetzt nicht Ingenieurwesen an der RWTH Aachen studiert haben, um das zu verstehen – aber was bedeutet das im echten Leben? Im echten Leben wurde mir das zum ersten Mal bewusst, als ich mich eines Abends mit einem Freund zusammen in Tokyo entschloss zu einem Kino zu fahren, um dort eine Reihe „Experimenteller Stummfilme des Dadaismus der Zwanziger Jahre aus Frankreich“ zu sehen. Eine solche Veranstaltung, zum Beispiel in Mönchengladbach durchgeführt, würde vermutlich zwei Kunststudenten anlocken von denen der eine in letzter Minute absagt. Klar, Mönchengladbach hat ja auch nur 150.000 Einwohner (Rheydt nicht mitgezählt, doch dazu später). In Tokyo und herum, mit 30 Millionen Einwohner gibt es aber durchaus genügend Japaner die sich so etwas antun. Und so war das Kino dann auch konsequenterweise ausverkauft, als wir ankamen.
Einige Jahre später fuhr ich mit meinem Sohn auf dem Anhänger am Fluss Tamagawa heraus aus Tokyo, als über den Fluss eine amerikanische Militärmaschine Richtung des Luftwaffenstützpunktes Yokota (dort wo es keine Räder gibt) flog. Hm, dachte ich, das wäre doch mal eine tolle Idee am nächsten Wochenende mit meinem Sohn zur Einflugschneise zu fahren und Flugzeuge anzuschauen. Gesagt, getan. Am nächsten Sonntag machten wir uns auf und fuhren mit Bahn und Taxi zur Airbase. Als wir ankamen dachte ich zunächst da wäre eine Demo in der Einflugschneise, denn da standen Massen von Japanern herum. Aber nein, das waren einfach Japaner die die gleiche Idee wie wir hatten und zum gleichen Zeitpunkt nach Yokota gekommen waren. Einige hatten ihre Familien mitgebracht und grillten, andere standen auf Leitern, um die Flugzeuge über dem Zaun besser fotografieren zu können. Einer erzählte mir, dass gleich eine Transportmaschine aus Pusan, Korea ankommen würde. Woher er das wusste? Er hatte einen Kurzwellenempfänger dabei mit dem er den Tower abhörte. Kurzum, ich dachte ich hätte eine ganz tolle Idee gehabt und wäre bestimmt der einzige Mensch in Tokyo dem so etwas tolles einfällt. Sind aber 30 Millionen Menschen um einen herum, wird das auch noch dem einen oder anderen einfallen und ein Volksfest daraus. Das ist das Gesetz der großen Zahlen.
Yokota Plane Spotiing – Meine Idee!
Und so sind dann eben morgens um vier schon unzählige Autos auf den Straßen von Tokyo unterwegs und ja, Gesetz der großen Zahlen, viele davon eben auch nach Shuzenji und es geht nicht so schnell vorwärts, wie ich mir das in meiner Nervösität gewünscht hätte.
In der D Klasse fing das Rennen kurz vor 8 Uhr an. Der Kurs selber ist 5 km lang und kann im, oder auch gegen den Uhrzeigersinn gefahren werden, dabei wird insgesamt ein Höhenunterschied von 140 Meter zurückgelegt. Bei diesem Rennen sollten nun drei Runden im Uhrzeigersinn gefahren werden; nach dem Start geht es auf der breiten Zielgerade zunächst einmal 30 Meter hoch und dann halsbrecherisch mit hohem Tempo über viele technische Kurven1,8 km runter. Ganz unten angekommen gibt es dann einen etwa 1,5 km langen Anstieg mit 70 Höhenmeter, bevor es dann wieder kurz runter in ein Tal geht. Danach beginnt dann der letzte Anstieg über 500 Meter zum Ziel. Wenn ich das hier so schreibe, dann klingt das so einfach: drei Runden sind auch nur 15 km und etwa 420 Höhenmeter – aber dieser Kurs ist wirklich die Hölle. Zum Glück waren nur drei Runden angesetzt, so dass die Gefahr einer Überrundung nicht besonders groß war. Ich musste nur das Ding zu Ende fahren und dann konnte ich wieder 60 Punkte mit nach Hause nehmen.
Am Start stand ich dann mal wieder hypernervös mit 27 Japanern und stellte fest, dass ich wahrscheinlich einer der Ältesten im Feld war. Vor mir stand ein, wie ich nachher herausfand, vierzehnjähriger Knirps der – Spoiler Alert – das Rennen gewinnen sollte. Egal, sobald der Startschuss ertönte war jede Nervösität weg, denn ich brauchte jedes Energiepaket, das in meinem Körper vorhanden war, um am Feld zu bleiben und den ersten Berg hoch zu kommen. Das schaffte ich unter völliger Verausgabung, auch wenn ich mich fast ganz am Ende des Feldes befand und wir begaben uns auf die lange Abfahrt. Hier habe ich gewisse Vorteile, denn Masse rollt gut, so dass ich keinerlei Mühe hatte die Position zu halten, bis wir ganz unten im Tal auf dem tiefsten Punkt der Strecke ankamen. Aber als nun das Feld den Anstieg begann war alles vorbei; ich konnte nur noch zusehen, wie sich auch der zweitschlechteste Fahrer zügig von mir in Richtung Ziel entfernte. So gut es ging strengte ich mich an den Berg hoch, und wieder runter zu kommen, aber als ich nach der ersten Runde im Ziel ankam war das Feld nicht mehr zu sehen und die wenigen Zuschauer sahen mich mit einer Mischung aus Mitleid und peinlicher Berührung an. Gut, dann noch eine Runde erst kurz hoch und dann wieder in die Abfahrt. Ich musste jetzt nur noch die zweite Runde beenden und nicht überrundet werden; also strengte ich mich auf dem langen Anstieg voll an und schaute mich immer wieder um nach dem Motorrad, dass die Rennspitze ankündigt. Aber da war zum Glück nichts. Nachher konnte ich nachlesen, dass sich die Spitze mit mehr als 31 km/h um den Kurs bewegte, während ich gerade mal mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 24 km/h um jeden Meter kämpfte. Aber das reichte eben auch. Die dritte Runde ließ ich dann deutlich langsamer angehen, ich musste ja nur noch heil ins Ziel kommen. Ich sah einen abgehängten Fahrer aus dem Feld vom Team „Spade Ace“ – das ist japanische für „Ace of Spade“ oder Pik As – aber selbst einen demotivierten, abgehängten Fahrer konnte ich nicht mehr einholen und rollte so über den Zielstrich.
Ergebnis: 25. von 25 Teilnehmern die das Rennen beendeten – immerhin drei hatten unterwegs aufgegeben. Ich fuhr nach Hause und mein Sohn fragte mich, welche Platz ich beim Rennen belegt hätte und ich sagte wahrheitsgemäß, dass ich Letzter geworden wäre. Da ich dies in den nächsten Wochen öfters sagen durfte entwickelte mein Sohn vermutlich nie einen sportlichen Ehrgeiz, denn ihm wurde klar, dass das ganze trainieren und üben total sinnlos ist – weil man ohnehin nur Letzter wird. Genau wie ohne jedes Training.
Ich überlegte mir, ob es besser wäre, wenn mir spontan ein Bein abfallen, oder wenn ich von Nordkoreanern entführt würde. Letzteres war gerade ein sehr populäres Thema in Japan. Mit anderen Worten, ich war gerade sehr nervös, was das erste Rennen am nächsten Tag anging und suchte nach einer passenden Ausrede. Und so richtig schön warm ist es in März in Tokyo auch noch nicht. Egal, ich glaube der Tag an dem ich nicht mehr aus dem Bett komme, ist der Tag an dem ich es auch gleich sein lassen kann.
Aber hey, das erste Rennen der Saison war ja auch nur eine Stunde von zuhause entfernt in Kawagoe in der Präfektur Saitama und ich hatte auch meine Kinder für die „Milky Way“ Kinderrennen angemeldet. Meine Frau hätte ich auch gerne für das Frauenrennen registrieren lassen, aber ich wollte es auch nicht übertreiben, ich war sowieso schon froh, dass sie überhaupt mitkam. Als wir ankamen und ich in die Radklamotten überzog meinte sie nur ich würde fett aussehen, da war ich dann auch nicht mehr so froh.
Es gibt in Japan 45 Präfekturen, dazu noch die Hauptstadt Tokyo und die relativ spärlich besiedelte Insel Hokkaido im Norden; diese entsprechen in etwa den deutschen Bundesländern. Auf meiner persönlichen Rangliste der Präfekturen liegt die Präfektur Saitama da recht weit unten, der Grund ist schlicht und einfach die Nähe zu Tokyo – ein Schicksal das Saitama mit Chiba, Kanagawa und Yamanashi teilt. Als Japan ab den Sechzigerjahren wirtschaftlich erfolgreich und wohlhabend wurde, wuchsen insbesondere die Einwohnerzahlen in den großen Städten wie Tokyo, Osaka und Nagoya schnell an und das umliegende Land wurde durch Eisenbahnlinien, Schnellstraßen und Siedlungen erschlossen. Das südliche Saitama ist daher eine schrecklich langweilige, zersiedelte Gegend geworden, an deren Straßen sich Autohäuser, Spielhallen und Supermärkte beliebig ballen. Jede Stadt dort sieht gleich aus, jede Straße hat man schon mal gesehen und jedes Haus ist eine Kopie eines anderen Hauses. Meistens dessen, das daneben steht.
Es gibt in Japan wunderbare Orte, geradezu mystisch mitten in der wunderschöne Natur, alten hellrot gestrichenen Tempeln und Kirschbäumen. Und es gibt Städte aus der Zukunft mit pulsierendem Leben, gewagten Bauwerken, vier Lagen Autostraßen und Unterhaltung rund um die Uhr. Saitama gehört nicht dazu; Saitama ist für Tokyo, was Bergheim für Köln, Delmenhorst für Bremen oder Offenbach für Frankfurt ist.
Saitama auf deutsch: Delmenhorst
Wir fuhren mit dem dicken Firmen BMW hin und kamen morgens am Kawagoe Suijopark an, wo das Rennen stattfinden sollte. Der Park besteht zu einem einem Drittel aus Parkplätzen, einem Drittel aus diversen Seen und Schwimmbecken und einem Drittel aus … äh … Park. Es gab dort einem 1,5 km langen abgesteckten Rundkurs, auf dem wir uns duellieren sollten. Technisch also nicht besonderes anspruchsvoll, zwei etwas engere Kurven, dazu einige engen Passagen, aber im Prinzip ein Rennen der Gattung „Rund um die Mülltonne“ wie sie häufig auch von Vereinen in Deutschland organisiert werden. Ich hatte mein neues Cervelo Rad noch nicht fertig bekommen und stattdessen mein Cannondale R1000 mitgebracht. Man erinnert sich, das grüne Bernsteinzimmer des japanischen Radhandels. Das Cannondale war mein erstes modernes Rennrad – Alurahmen mit einer Ultegra 9-fach Schaltung, was man halt so als ambitionierter Einsteiger fährt ohne gleich negativ („Oh, Du fährst ein Rad mit ’ner 105er Schaltung? Hast Du Deinen Job verloren?“) oder positiv („Dura Ace? Das fahr ich ja nie raus!“) oder gar nicht („Häh, wie heißt das? Campagpolo?“) aufzufallen. Ich hatte seit dem Kauf nur wenige Änderungen vorgenommen. Zunächst einmal hatte ich das Übersetzungsverhältnis geändert. In einem Land mit wirklich vielen Bergen wurde dieses Rad nämlich vorne mit 52/39 Kettenblättern, und hinten mit einer 11/23 Kassette ausgeliefert. Als ich damit zum ersten Mal in die Berge fuhr und selbst in der 39/23 Übersetzung nur noch eine Trittfrequenz von 2 hatte wurde mir klar, dass es nicht ausschließlich an mir liegen könnte. Und dann hatte ich Campagnolo Zonda Laufräder mit G3-Einspeichung verbaut, weil das wesentlich schneller ist die zu putzen. Insgesamt war das Rad OK – aber ich war es leider gar nicht. Ich war untrainiert, fett und hatte mich dann auch noch wie der totale Anfänger angezogen. Mein auffälliges, oranges Euskatel Jersey spannte aber dem Bauch bis zur schwarz/weißen Radhose. Darunter dann zwei Wintergebleichte Kalkweiße, behaarte Beine und als Höhepunkt knatschgelbe Überzieher über den Schuhen. Jeder, der mich da so sah wusste, dass ich keine Chance hätte das Rennen vorne zu beenden. Der einzige der das nicht wusste war ich mit meiner „es ist noch immer gut gegangen“ und „schau wer mal“ Mentalität.
In der D Klasse erschienen 42 Starter. Das Rennen war als Punkterennen aufgebaut; für diejenigen, die sich darunter nichts vorstellen können: Jede zweite Runde bekommt der Erste der das Ziel durchfährt 7, der Zweite 5, der Dritte 4 usw. Punkte. Wer nach 10 Runden die meisten Punkte hat, hat das Rennen gewonnen; bei Punktegleichheit ist der Fahrer der zuerst die 10 Runden absolviert hat vorne. Eine japanische Besonderheit ist, dass alle startenden Fahrer einen Punkt bekommen, so dass keiner mit Null Punkten abschließen muss und sich dann vielleicht schlecht fühlt.
Ich wusste auch aus Erfahrung, dass vermutlich nur 10 oder 20 Fahrer überhaupt in der Wertung Punkte bekommen werden, also im Sprint einmal unter den besten Sechs sind. Daher war meine Strategie nur einmal zu sprinten, ein paar Punkte einzusammeln und dann das Rennen in aller Ruhe zu Ende zu fahren. Na das würde doch dann ein entspannter Nachmittag werden, so wie Napoleon ja auch mit der richtigen Strategie ein paar heiße Nächte in Moskau verbracht hätte. Außerdem dachte ich mir noch, dass bestimmt alle supernervös losfahren würden und versuchen beim ersten Sprint Punkte einzusammeln, so dass ich mich erst einmal dranhänge und dann beim 2. Sprint nach vier Runden zuschlage. Dann wäre ich gerade mal 6 km gefahren und könnte die letzten 9 km gemütlich und unambitioniert nach Hause radeln. Ach so, falls es noch nicht aufgefallen ist: Die JCRC Rennen in Japan sind sehr kurz – 15 km, da lachen viele. Aber der grundsätzliche Gedanke viele kurze Rennen (in Kawagoe insgesamt 19!) mit kleinen Gruppen gleicher Leistung an einem Renntag zu fahren hat schon seinen Charme, im Gegensatz zu einem langem Rennen mit zu vielen Startern die am Ende dann nur in verschiedenen Klassen gewertet werden. Vor allem ist man dann auch schneller zuhause, noch frisch und kann den Tag für andere Dinge sinnvoll nutzen.
Am Start stand ich irgendwo in der Mitte des Blocks und eh ich überhaupt darüber nachdenken konnte nervös zu sein, ging das Rennen auch schon los – natürlich in einem höllischen Tempo auf das ich nicht gefasst war. Heute würde ich sagen, klar, ist ja immer so, selbst bei einer RTF wo es nichts zu gewinnen gibt, aber da ich ja noch keine Erfahrung hatte war ich ….. überrascht …. na ja, eigentlich mehr überwältigt. Zuerst konnte ich noch ganz gut mithalten, aber mit zuerst meine ich auch nur die ersten drei Runden, danach flog ich hinten mit ein paar anderen aus dem Feld raus. Soweit zu meiner genialen Strategie. Nach zwei Runden war an einen Sprint gar nicht zu denken, ich musste einfach nur kämpfen, um im Feld zu bleiben. Und beim nächsten Sprint nach vier Runden war ich ja schon mit sechs anderen Fahrern hinter dem Feld.
In diesem Moment wurde mir dann klar, dass ich nun unbedingt so schnell fahren musste, dass mich das Hauptfeld nicht einholt und überrundet, denn dann drohte mir gleich im ersten Rennen die Disqualifikation und damit das Scheitern meines ganzen Vorhabens. Das Risiko war gar nicht mal so gering, denn die Durchschnittsgeschwindigkeit hier lag bislang bei 45 km/h und die Strecke war eben auch nur 1,5 km lang, ergo 2 Minuten Zeit pro Runde. Von einem entspannten Sonntag wandelte sich das ganze also plötzlich in einen Nachmittag des Überlebens in Verdun.
Jetzt wäre es natürlich toll gewesen, wenn wir uns innerhalb der 6 Fahrergruppe hinter dem Feld immer schön vorne abgewechselt hätten, und wer weiß, vielleicht wären wir sogar noch einmal an da Feld heran gekommen. Aber ich hatte so eine Panik, dass ich fast die ganze Zeit vorne fuhr und mich total sinnlos verausgabte. Hinter mir lachten und schwatzten die anderen 5 Fahrer in meinem Windschatten, am Streckenrand versteckten sich meine Kinder, damit sie nicht mit mir, dem einzigen Ausländer im Park, in Verbindung gebracht würden und meine Frau telefonierte angeregt und lange mit ihren Freundinnen um allen klar zu machen: „Ich bin nicht unbedingt freiwillig hier“.
Nachdem wir dann nach 9 Runden wieder durch das Ziel gekommen waren, war nun klar, dass wir nicht überholt werden würden, oder vielleicht doch: beim ausrollen der Sprinter nach dem Ziel. Die letzte Runde gingen wir dann also gelassener an und ich machte mir zur Aufgabe wenigstens den Sprint der sechs Fahrer zu gewinnen.
Kurz hinter der letzten Kurve, etwa 250 Meter vor dem Ziel zog ich von vorne weg an und schaffte es dann fast. Na, immerhin kam ich als Zweiter der Gruppe ins Ziel und insgesamt als 30. von 38 Fahrern die es in überhaupt in das Ziel schafften. Das motivierte mich wieder ein wenig und ich hatte wie geplant die ersten 60 Punkte auf dem Weg zur Meisterschaft gesammelt, auch wenn es deutlich anstrengender war als geplant.
Mein Sohn, dessen sportliche Gene überwiegend von mir vererbt sind, schlug sich auch etwa so ähnlich wie ich, so dass ich aus Gründen der Barmherzigkeit nicht weiter darüber schreiben möchte. Er könnte auch wesentlich besser fahren, wenn es sich nicht immer beim Start die Ohren zuhalten würde, denn er ist sehr lärmempfindlich und fürchtet sich vor dem Startschuss. Meine Tochter hingegen stand mal wieder auf dem Podium in ihrer Altersklasse. Von unserer gesamten Familie ist sie mit Abstand die sportlich erfolgreichste, wenn auch nicht auf dem Rad, sondern beim Eiskunstlaufen. Und für meine Frau war es ein Sonntag im Park. A walk in the park, a step in the dark (Nick Straker)
Hinweis: In diesem Teil kommt das Thema Radsport gar nicht vor und wird nur ab und an aus schlechtem Gewissen erwähnt. Also:
Absolut kein Radsport in Düsseldorf.
1979 als ich schwitzend vor Angst im Okie Dokie stand hätte ich nie gedacht, dass ich einen großen Teil meines Lebens in Japan verbringen würde. Klar, in dem Monat dachte ich sowieso nur daran, wie ich nicht eins auf die Fresse kriegen würde, und möglichst schnell abhauen könnte. Aber auch ansonsten auch machte ich mir Punk-no-future-mässig wenig Gedanken um meine Zukunft. Warum auch, ich spielte in einer Band aus Mönchengladbach, EA80, brachte ein Fanzine raus, Das Mob, und machte Abitur. Ach ja, und ich fuhr ab und an Rad.
Mit Japan hatte ich noch nichts zu tun, auch später als ich von Mönchengladbach in die Glitzer- und Japanermetropole Düsseldorf umzog. Dort stellte sich das erträumte adrenalinhalte Punkleben als eine doch eher drögge Mischung aus Altbier, aufgesetzter Coolness und schlechter Musik heraus. Noch schlimmer wurde es dann, als ich ein paar Jahre später nach Aachen zog, um mein Ingenieurstudium zu beginnen. Heute stellt sich Aachen dar, als wenn es das wahre Silicon Valley Deutschlands wäre, aber in den Achtzigern gab es da weder Japaner noch Frauen.
Letzteres war ein Problem, ersteres überhaupt nicht. Ich war letztens noch mal in der Stadt und hatte meine damalige Nachbarin Evelyn besucht. Nachts spazierten wir durch den Park auf den Lousberg hoch und setzten uns oben auf eine Bank mit Blick über die Stadt. Wir hatten ein paar Flaschen Bier dabei, ich rauchte eine Zigarette und es war sehr romantisch. Eine Bank weiter saßen zwei Männer und ich dachte „OK“, bis ich Gesprächsfetzen auffing, die etwa so waren:
„Bei der letzten Übung in Thermodynamik habe ich nicht verstanden, warum die Konvergenz idealer Gase…..Bernoulli-Hypothese zur Biegung langer gerader Balken…..usw. gähn“
Ja, so ist Aachen. Meine Ingenieursfreunde hörten keine Musik, fuhren kein Rad und waren total humorlos. Als ich mit dreien von denen nach einer Vorlesung Richtung Stadt ging und gerade einen, wie ich fand, extrem lustigen Witz erzählte (es war der lustigste Witz der Welt und der Effekt war wie bei Monty Python, leider kann ich mich so gar nicht mehr daran erinnern) spielte sich folgendes ab:
Ich: „… und dann sagte der Arzt zu der Frau:…“ Ingenieursfreund: „So, macht’s gut, ich geh‘ noch in die Mensa, wir sehen uns dann später bei Wasserbau.“
Meine Freunde hatten auch keine Bücher; wenn ich denen eins zum Geburtstag schenkte dann hieß es: „Ein Buch? Aber ich habe doch schon eins. Da brauche ich ja bald ein Regal, hahahaha.“ Genauer gesagt hatten sie drei Bücher: Taschenbuch der Mathematik von Bronstein & Semendjajew, die Louis Vuitton Tasche des Ingenieurs, und zwei Werner Comics. Das war gut für mich, weil ich schreiben konnte und in Gruppenarbeiten immer die angenehme Aufgabe hatte die Ergänzungsberichte anzufertigen. An dem Wort „Ergänzung“ merkt man schon, wie wichtig Text dem Ingenieur, im Gegensatz zu Tabellen, Graphiken und Formeln ist – nämlich gar nicht. Die klassische Diplomarbeit in Aachen fing an mit: „Wie in Abbildung 1.1.1.1.1 erkennbar …“ und endete mit einer Tabelle 27.23.8.13.3.
Ich hingegen verfasste elaborate Texte, die von divergierende Klothoiden in der Unendlichkeit des Tannhäuser Tores berichteten und kam mir vor wie Rutger Hauer in Blade Runner. Diese Berichte dienten vor allem dazu unseren Arbeiten das nötige Volumen zu verpassen, gelesen wurden sie eher selten. Ich war einmal bei einem Assistenten im Fach Abwasserreinigung in der Sprechstunde und hatte noch ein paar Fragen zu meinem Exkursionsbericht, als ein anderer Student reinkam und seinen Bericht abgab. Der Assistent meinte dann, er solle ihn in den Eingangskorb legen und könne den in zwei, drei Wochen abholen. Während er dann mit mir weitersprach, nahm er den Bericht, stempelte auf die zweite Seite „Bestanden“ und legte ihn in den Ausgangskorb. Das sind so die Momente, wo einem das ganze menschliche Dasein und Tun total sinnlos vorkommt.
Jedenfalls war ich nun zu Unrecht sehr selbstbewusst, was meine schreiberischen Fähigkeiten anging und als ich im Frühjahr 1985 eine Anzeige der Japan Foundation im Spiegel sah, die zu einem Aufsatzwettbewerb in Japan einlud war ich sofort Feuer und Flamme. Es gab einen zweiwöchigen Aufenthalt dort zu gewinnen und dazu musste man nur einen Aufsatz zum Thema „Mein Bild von Japan“ verfassen. Wenn meine Freunde mich fragten, wo ich im Sommer den Urlaub verbringen würde, sagte ich nur kurz und lässig: „Japan. Bin eingeladen.“
Zum Glück war ich nicht größenwahnsinnig und ließ meinen Aufsatz vor der Abgabe von Christian Bieniek durchlesen. Christian kannte ich aus Düsseldorf; er war ein begnadeter Musiker, ein begnadeter Schreiber, und zudem auch noch leicht exzentrisch – später wurde er Kinderbuchautor. Vor allem aber war er der witzigste Mensch, den ich je in meinem Leben kennengelernt hatte – bis auf das rothaarige Mädchen, das in der Bäckerei neben Woolworth arbeitete. Christian fand meinen schnell geschriebenen und ganz schlecht recherchierten Text über das Image von Japanern in Deutschland zu recht fürchterlich und versuchte dann zu retten, was es zu retten gab, aber auch so war das Ergebnis, fast vierzig Jahre später betrachtet, immer noch ein furchtbares Machwerk von Vorurteilen, Plattitüden, Halbwahrheiten und Witzeleien. So hiess es z.B. darin, dass Japaner in der internationalen Musikszene immer präsenter werden. Man denkt da ja vielleicht an Yoko Ono, oder Ryuichi Sakamoto vom Yellow Magic Orchestra, aber ich dachte an Zeke Manyika, den Schlagzeuger des britischen One-Hit-Wonder Orange Juice. Für mich klang der Name irgendwie japanisch und ich erwähnte ihn, aber wenn ich vorher mal einen Blick auf die Rückseite der Orange Juice LP geworfen hätte, dann wäre mir klar gewesen, dass Zeke Manyika aus Simbawne, und nicht aus Japan stammt.
Zeke Manyika; Japaner, glaube ich, unten links.
Das war aber auch egal, denn in der Japan Foundation saßen viele Menschen des Types: „Assistent im Fachbereich Abwasserreinigung“. Heute glaube ich, dass da noch nie ein Ingenieur einen Aufsatz eingereicht hatte und ich alleine aus diesem Grund (Spoiler Alert) ausgewählt wurde. Ja, genau, neben etwa 40 weiteren Gewinnern aus der EU, bekam ich dann eines Tages von der japanischen Botschaft einen Anruf, der mir mitteilte, dass ich im September für zwei Wochen nach Japan fliegen würde. Ich weiß nicht ob das der glücklichste Moment meines Lebens war, aber es war mit Abstand der glücklichste Moment in Aachen. Manchmal, wenn ich mit meinem Leben nicht zufrieden bin dann denke ich daran, was aus mir geworden wäre, wenn ich damals nicht nach Tokyo gegangen wäre. Vermutlich hätte ich in Aachen promoviert und meine Doktorarbeit über die symbiotische Verbindung von Hochlochziegeln und Mörtelfugen geschrieben, ein irrsinniges spannendes Thema das ca. 36 Menschen in der Welt interessiert und mit der man garantiert keine Frauen bekommt, schon gar nicht in Aachen. Stattdessen unterhalte ich mich heute über den Unterschied zwischen der Bremsleistung einer Shimano Dura Ace BR-7403 (meine Lieblingsbremse!) und einer Shimano Dura Ace BR-9100, ein Thema das garantiert mehr als 37 Menschen auf dieser Welt interessiert, bei Frauen allerdings gleichsam wenig beliebt ist.
Davor war ich in meinem Leben einmal geflogen – von Düsseldorf nach Zürich – und jetzt saß ich in der Businessclass einer 747 der Japan Airlines und machte ich auf den 23-stündigen Weg über Alaska nach Tokyo. 1985 gab es noch die UdSSR und die erlaube es nicht über ihren Luftraum zu fliegen, das hatte die Führung noch 1983 sehr klar gemacht, als sie eine koreanische Passagiermaschine abschießen ließen. Und so wurde Amerika der zweite Kontinent auf den ich meinen Fuß setzte.
Ich kann jetzt nur den Menschen sagen, die wie ich aus Mönchengladbach kommen: Tokyo ist anders. Und irgendwie, ehrlich gesagt, auch besser – Sorry Gladbach. Tokyo ist auch anders als Düsseldorf (mehr Glitzer) und auch als Aachen (mehr Frauen). Wir wurden wie Rockstars begrüßt und bekamen im Außenministerium dicke Briefumschläge mit vielen druckfrischen 10.000 Yen Scheinen (etwa €100), damit wir auch richtig Spaß in der Stadt haben können, denn billig war es da leider nicht. Und dann machte ich dort Dinge, von denen ich in Aachen nur träumen konnte! Ich fuhr mit 300 Sachen im Superschnellzug nach Kyoto, pinkelte in Pissoirs in denen goldfarbene Eiswürfel geschüttet waren, sprach mit gutaussehenden Frauen und tanzte in Discos, von denen zehn in einem Hochhaus übereinander gestapelt waren. Das war definitiv noch besser als das Okie Dokie! Ich badete in heißen Quellen mitten im Schnee und von hinten schauten mir dabei Affen zu oder zeigten ihre roten Ärsche. Ich fuhr im Bus über die aufgeständerte Stadtautobahn Tokyos und schaute direkt in erleuchtete Büros, Restaurants und Wohnungen hinein die nur wenige Meter weg waren. Ich trank viel Alkohol, aß eine Menge Dinge von denen ich nicht exakt wusste was sie waren und fuhr überhaupt kein Rad.
In den kommenden Jahren versuchte ich dann die Voraussetzungen zu legen dort wieder hin zu kommen. Spaßeshalber fing ich an japanisch zu lernen und lernte meinen ersten japanischen Freund, Morikawa Koichi, kennen, den ich spaßeshalber „Zeke“ nannte. Nach drei Jahren konnte ich immer noch kein japanisch, hatte aber so ziemlich jedes mögliche leckere japanische Gericht bei ihm zuhause gegessen.
Und dann musste ich auch noch das Studium zu Ende bringen und das dauerte dann noch Mal fast fünf lange und langweilige Jahre. Am Ende verfasste ich meine Diplomarbeit zum Thema „Optimierung einer Vorrichtung zur Prüfung der Zugfestigkeit von Mörtelprismen mittels der FE Methode“ und währenddessen verlor ich die wenigen Kontakte die ich nach Japan hatte. Ich hatte das Gefühl in die falsche Richtung zu driften und das mein Leben unter einer Unmenge von Hochlochziegeln begraben wird. Kurz vor Studienende bewarb ich mich daher für ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für zwei Jahre in Japan: Ein Jahr an einer Sprachschule in Tokyo und ein weiteres Jahr als Praktikant in einem Unternehmen; gut dotiert. Ich will nicht als gierig erscheinen, aber ohne Geld macht Tokyo echt keinen Spaß: Kein Superschnellzug, keine Pissoirs mit Goldgefärbten Eiswürfeln, keine heißen Quellen und wenig leckeres Essen. Wie sagt man so langweilig: Das Schicksal war mir wieder gnädig. Meine Bewerbung fand Anklang, ich wurde zum Interview nach Bonn bestellt und irgendwie konnte ich die Menschen dort wieder davon überzeugen mich nach Tokyo zu lassen. Und so dass ich im September 1990 wieder in einer 747 der Lufthansa auf dem direktem Weg über Russland nach Tokyo.
In den zwei Jahren dort lernte ich ordentlich japanisch und hatte jede Menge Spaß auch wenn ich zusammen mit meinem Freund Jürgen in einer ziemlichen Bruchbude am Rande der Stadt wohnte. Wir hatten keine Klimaanlage, im Sommer konnten wir uns also nicht zuhause tagsüber aufhalten und im Winter hatten wir tragbare Gasöfen mit Schläuchen, die wir von einem Zimmer mit in das andere nahmen und dort an den Gashahn anschlossen. Meine Vorstellung von dem Hochtechnologieland Japan bekam da dann auch die ersten Risse: Wir sehen die USA und denken: Wow, die sind auf den Mond geflogen und haben Apple, Google, Flugzeugträger und Hamburger so hoch wie das World Trade Center (denn letztendlich: gleiches Schicksal), da ist dann auch alles andere tippi toppi. Nein, ist aber nicht so, in dem Hotel in Amerika wo ich abstieg, waren die Lichtschalter aus dem Mittelalter und die Fenster derart undicht, dass man auch gleich die Fensteröffnung mit einer Plastikplane hätte abdichten können. Und auch viele andere Dinge dort sind da ja echt gruselig.
Zum Glück gibt es ja Nordkorea. Die können Atomraketen bauen, aber bringen es nicht auf die Kette ihre Bevölkerung zu ernähren. So sind an sich alle Länder dieser Welt.
In Japan gab es 1990 bereits neben superpünktlichen Superschnellzügen, Gameboys, elektronischen Lexikas, Kaffee in Dosen und kleinen Faxmaschinen eben auch Waschmaschinen die nur mit kaltem Wasser wuschen, Toiletten die aus wenig mehr als einem Loch im Boden bestanden und vor allem viel Papier und noch mehr rote Stempel mit denen alles zwei-, drei- vierfach genehmigt werden musste. Rein zufällig spazierte ich mal in eine Ausstellung von Panasonic – die machten quasi alles vom Walkman bis zum Kühlschrank – und dort stand ein Stahlrennrad von Panasonic mit der brandneuen Shimano Dura Ace 7400 Schaltung. Das war zum ersten Mal, dass Schaltung und Bremsen in einem Hebel zusammen integriert waren und irrsinnig revolutionär – und dann auch noch mit 2 x 8 Gängen. Ist mehr als dreißig Jahre später immer noch so, gibt halt nur mehr Gänge. Ich machte mich dann auf die Suche nach einem Fahrrad und fuhr mit Jürgen raus zur amerikanischen Airbase nach Yokota, weil Jürgen gehört hatte, dass es dort günstige Räder in unserer Größe geben sollte. Das war nicht so und kostete uns beiden einen Tag unseres Lebens.
Wir wollten dann auf die Base, wurden aber von Wachposten am Eingang gestoppt. Da wir auch niemanden auf der Base kannten liessen sie uns auch nicht rein. Die Idee einfach so auf die Base zu gehen war auch ziemlich naiv – nein also eigentlich total bescheuert. Also schauten wir uns in der Nähe nach Radläden um. Die Gegend um Yokota ist nicht wirklich schön und Radläden gibt es dort auch nicht, aber zum Glück sprachen dort viele Menschen leidlich englisch, was sonst nicht so der Fall war. Jürgen schlug dann zu und kaufte sich ein „Shogun“ Rad. Das war damals schon scheiße und ist auch nach nostalgischen heutigen Maßstäben einfach nur scheiße. Ich konnte mich nicht entscheiden und ging ein paar Tage später zu einem kleinen Radhändler in der Nähe von Aburamen, den ich über den Lonely Planet Reiseführer gefunden hatte. Den Laden gibt es heute nicht mehr.
Der Laden war winzig und total dunkel. Aber der Mann hatte Ahnung, wie ich nun im Nachhinein weiß und bestellte für mich bei Panasonic ein blaues Rennrad in meiner Größe. Das ging so, dass er mich eine Menge Dinge fragte die ich leidlich verstand und dann ein Formblatt mit dem Fax zu Panasonic schickte und kurz darauf eine Antwort bekam. Das Rad war also bestellt und ein paar Wochen später sollte ich es dann abholen. Das komplette Zusammenbauen fand in dem Radladen statt, Panasonic lieferte nur den Rahmen und die Komponenten, alles andere musste der Radhändler machen, einschließlich des Einspeichens der Laufräder.
Für den Preis von 60.000 Yen, etwa € 500, bekam ich einen dunkelblauen Stahlrahmen mit einer kompletten 7-Gang Shimano 600 Trikolore Ausstattung. Die Kurbelblätter waren ovale Bio-Space, was heute alle bescheuert finden aber damals wie heute total egal war. Alles in allem war das ein Rad für dass man sich nicht schämen musste und das vielleicht sogar Radsport Lenzen repariert hätte.
Nach dem Kauf mußte ich allerdings nach Hause fahren und ich hatte keine Ahnung wie ich dorthin kam. Also versuchte ich erst einmal zum nächsten größeren Bahnhof, nach Shibuya durchzuschlagen. Von Shibuya aus ging die Inokashira S-Bahnlinie zu meinem Heimatbahnhof Higashi-Matsubara und machte vorher an dem Kreuzungsbahnhof Shimokitazawa halt. Von dem weiteren nördlich gelegenen Großbahnhof Shinjuku ging die Odakyu Linie ebenfalls nach Shimokitazawa. Also, dachte ich wenn ich auf der nördlichen Seite der Inokashira Linie bleibe und immer südlich der Odakyu Linie , dann komme ich irgendwann einmal nach Shimokitazawa. So fuhr ich irgendwie kreuz und quer zwischen die Bahnlinien bis ich dann drei Stunden später in Shimokitazawa ankam. Ein absoluter, langanhaltender Alptraum. Ich versuchte dann die nächsten beiden Stopps bis zu meinem Bahnhof an der Inokashiralinie zu bleiben, verfuhr mich und eine weitere Stunde später hatte ich keine Ahnung wo ich war und sprach auf englisch eine Frau an. Die zum Glück auch gut englisch sprach und mir den Weg zum Bahnhof zeigte. Später fand ich heraus, dass ich nur etwa 200m von meiner Wohnung entfernt war.
Später kaufte ich mir einen Straßenatlas und fuhr häufig damit durch Tokyo und die nähere Umgebung. Eines der ersten Teile, die ich mir für das Rad kaufte war ein digitaler Tacho von Cateye. Mit Rad, Tacho und Atlas machte ich mich dann auf den Weg Tokyo zu erkunden. Das geht, wenn man etwa 200 Jahre Zeit hat aber auch später nach all den Jahren kannte ich immer nur wenige Strecken durch die Stadt und war rettungslos verloren, wenn ich ein, zwei mal links und rechts in kleine Seitenstraßen abbog. Auf einmal ist man weg von der großen Stadt in einem Dorf.
So desu, ne.
Mutiger geworden machte ich mich dann auf die ersten Touren raus aus der Stadt. Ich fuhr mit meinem Freund Tobias nach Kamakura an der Küste durch endlose Siedlungs- und Industrielandschaft. Wir hatten zwar einen Straßenatlas dabei, verfuhren uns aber doch ständig. Japaner zu fragen war quasi sinnlos, es war als hätten die noch nie in ihrem Leben eine Straßenkarte gesehen und konnten damit nichts anfangen. Japaner können das aber nicht zugeben, bzw. sie zeigen das auf eine Art und Weise die andere Japaner verstehen – wir aber nicht. Diese Art und Weise besteht aus einem langen Betrachten der Karte, wiederholtem drehen, murmeln von „Sooo desuu neee“, zupfen am rechten Ohrläppchen und dem plötzlichen und scharfen Einsaugens sämtlichen verfügbaren Sauerstoffes in der unmittelbaren Umgebung. Ein normaler Japaner weiß dann sofort: „Eh, der Honk hat ja gar keinen Schimmer!“, aber wir dachten einfach, na ja, der guckt ja, spricht, hört und lebt noch, also irgendwann wird der schon mit was vernünftigem rauskommen. Das kostete uns wieder einen halben Tag unseres Lebens.
Da ich zum ersten Mal mit Hakenpedalen fuhr, kippte ich auch zum ersten Mal an einer Ampel beim Anhalten mit dem Rad um, dieses Erlebnis kennt ja wirklich jeder. Am späten Nachmittag kamen wir in Kamakura an, blieben etwa 15 Minuten am Strand und machten uns schleunigst auf den Weg zurück um noch vor Mitternacht zuhause zu sein. Jahre später fuhr ich das in sechs Stunden locker hin und zurück, aber beim ersten mal war es eben auch am aufregendsten.
In der Woche fuhr ich nachts eine dicke Straße, die Inokashira-Dori, raus zu meiner Fast-Freundin Barbara G. nach Musahi-Sakai im Westen der Stadt. Das klingt nah, waren aber auch fast 20 km. Zwar gab es in Tokyo mehr Japaner als in Aachen, aber in Punkto Frauen gab es für mich persönlich nicht so viel Unterschied. Nachts die Inokashira Dori runterzubrettern war aber fantastisch. Es war warm, dunkel und schnell, also eigentlich wie im Okie Dokie.
Dann, im Sommer 1992 lief mein Stipendium aus, das Geld ging zu Ende und ich musste wieder zurück nach Deutschland und, noch schlimmer, anfangen richtig zu arbeiten und Geld zu verdienen. Ich hatte Kazuko kennengelernt und wir heirateten und zogen für kurze Zeit zurück in die Glitzermetropole Düsseldorf, wo ich einen Job bei Hochtief in Essen in der Auslandsabteilung annahm. In der Folgezeit war ich dann viel im Asien unterwegs und versuchte meine Karriere und Familie in Schwung zu bringen, das ging dann leider nur auf Kosten von Rad, Sport und Fitness. Ich hatte mein Panasonic Rennrad mit nach Deutschland gebracht und fuhr an den Wochenenden, wenn ich in Deutschland war, gerne von Düsseldorf nach Essen an die Ruhr und von da aus durch das bergische Land nach Langenberg und Grafenberg. Ich war nicht ambitioniert, aber auch keine Schnecke; Berge fahren konnte ich überhaupt nicht aber ich hatte Spaß daran.
1994 wurde ich dann für zwei Jahre auf eine Staudammbaustelle am gelben Fluß nach China versetzt und nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland recht schnell wieder 1996 nach Malaysia. Nein, das war nicht der Dreischluchtenstaudamm den man hier noch kennt, sondern ein fast ebenso hoher, aber dummerweise total in der chinesischen Pampa liegender Felsschüttdamm. Bei Staudämmen denken ja viele an elegant geschwungene, massive Betonmauern, ein Felsschüttdamm ist das leider gar nicht, dass ist einfach nur ein Haufen größeren Drecks, um den das Wasser einen Bogen macht.
China 1994 ist nicht China heute – und schon gar nicht da auf dem Land wo ich war. Ok, die nächste Stadt war Luoyang mit etwa 6 Millionen Einwohnern – aber ehrlich gesagt hatte Mönchengladbach in jeglicher Hinsicht mehr zu bieten. Es gab wenig zu kaufen und wenn dann war es Schrott wie die billigen Fernseherkopien von „Tony“ oder „International Panasonic“, die Taschentücher von „Tempi“ oder, das war noch am besten, das Parfüm von „Oil of Olaf“. Ich kaufte mir das teuerste Rad in der Stadt irgendsoein taiwanesisches oder chinesisches MTB mit einer Suntour Schaltung. Direkt bei meiner ersten Fahrt hatte ich das Pedal aus der Kurbel rausgetreten – das war echt schlimmer Schrott. Im Workshop auf der Baustelle wurde das noch mal geschweißt, aber es half nichts, das Teil war nach einem Tag hinüber. Ich hätte mir besser doch so ein stabiles Kommunistenrad wie „Ostwind“ oder „Weiße Taube“ holen sollen.
Alles in allem war ich froh da weg zu kommen und noch froher dann in Malaysia arbeiten zu können wo auch unser Sohn Henri geboren wurde. Ich käme nie auf die Idee in Malaysia oder Kuala Lumpur Urlaub zu machen, aber dort kann man richtig gut leben. Radfahren geht da natürlich gar nicht, denn erstens ist es dort sehr hügelig und zweitens durchgehend schweineheiß. Das Wetter war an sich jeden Tag gleich, heiß und sonnig am morgen, noch heißer und schwüler mittags, dann wieder sonnig, schwül und heiß gefolgt von Gewitter und massig Regen am Spätnachmittag.
Zurück in Düsseldorf wollte Hochtief mich dann in den Libanon schicken für die nächste Jahre. Das wollte ich nicht, also suchte ich mir einen Job in Japan und kündigte bei Hochtief.
Ich hatte mal wieder Glück: Schindler Aufzüge hatten eine schlecht gehende Tochterfirma in der japanischen Provinz und suchten jemanden, der den Laden auf Vordermann brachte. Warum sie da auf mich kamen ist mir auch heute noch ein Rätsel, aber nach meinen Erfahrungen beim japanischen Außenministerium, dem DAAD und nun Schindler hatte die Sache System. Ich nahm den Job dankbar an und im April 1998 flog ich mit Swissair nach Japan um meinen Einsatz in Fukuroi, in der Präfektur Shizuoka anzutreten. Dort begann dann mein Liebesdreieck mit Japan und dem Rad.
Ich kann jetzt nicht schreiben, dass das die glücklichste Zeit meines Lebens war, aber es war erstens besser als China, zweitens besser als Aachen und drittens besser als Mönchengladbach.
Ich hatte immer noch mein Panasonic Stahlrad und fuhr damit an den Wochenenden einmal um ein großes Binnenmeer, den Hamanakako in der Nähe von Hamamatsu wo wir wohnten. Hamamatsu ist, für japanische Verhältnisse eine mittelgroße Stadt mit 800.000 Einwohnern und bekannt für drei Dinge: Salzwasseraale – die werden gegessen, Unagi Pai,eine Süssigkeit aus Saltwasseraal und die tatsächlöich auch gegessen wird und Yamaha – die bauen Pianos und Motorräder in einer Fabrik mitten in der Stadt. Wie es überhaupt um Hamamatsu herum sehr viele Fabriken gibt die Motorräder, Waschmaschinen und andere nützliche Dinge produzieren und daher viele Arbeiter brauchen. Die japanische Bevölkerung veraltet sehr flott und dem Thema „Gastarbeiter“ steht man in Japan eher skeptisch gegenüber. Aber wenn eine japanische Familie in den Zeiten der Depression zwischen den Weltkriegen nach Brasilien auswanderte, dann können deren Nachfahren ohne größere Probleme nach Japan kommen um dort zu arbeiten. In Hamamatsu, mit seinen vielen Fertigungsbetrieben hat sich daher eine große brasilianische Gemeinde gebildet, deren Mitglieder mehr oder weniger japanisch aussehen, Jose Tanaka, Pablo Kuraoka oder Alfredo Ohmachi heißen und prima portugiesisch sprechen. Und so wurde auch ich in Hamamatsu immer wieder für einen Brasilianer gehalten. Das ist leider eher negativ. Wird man als Amerikaner eingeschätzt, oder noch besser als Deutscher dann sind die meisten Menschen erst einmal freundlich und nach dem dritten Bier heißt es dann: „Das nächste Mal wieder zusammen, aber dann ohne die Italiener.“ Als Brasilianer kommt man noch nicht einmal zum ersten Bier. Ich musste z.B. meinen deutschen Führerschein auf einen japanischen umschreiben lassen, das ist ein rein bürokratischer Akt für Deutsche; Brasilianer müssen eine extra Fahrprüfung ablegen. Im Rathaus wurde ich dazu in einen extra Raum gebeten, um die Fahrerlaubnis zu erhalten, damit „meine brasilianischen Freunde das nicht sehen“, denen ich auch auf keinen Fall sagen sollte, dass ich den Führerschein so bekommen habe. Was ja nur möglich ist, weil „Japan und Deutschland Länder auf etwa dem gleichen Level sind“.
Unter diesen Umständen ist es natürlich eher schwierig Freunde zu finden. Und so fuhr ich meistens auch auf dem Rad alleine durch die Gegend. Langsam wagte ich mich Richtung Norden, weg von der Küste in die Berge. Ich war ein echt mieser Bergfahrer, aber ich liebte es über die einsamen Straßen durch die Wälder zu fahren. Wir hatten eine deutsche Hippiefreundin, die mit einem Japaner und ihren beiden Kindern in einem Bauernhof abgelegen in den Bergen lebte und die wir oft besuchten. Die Straße dort hoch war so steil, dass ich sie mit meiner Heldenkurbel nicht hochfahren konnte. Runter mit Felgenbremsen ging auch nicht wirklich.
Tja, alles hätte so schön sein können, aber ich musste ja unbedingt Karriere machen und im Jahr 2000 wurde ich in das Hauptbüro von Schindler nach Tokyo versetzt. Wie gesagt, ich liebe Tokyo mit all seinen großen und kleinen Straßen und obskuren Besonderheiten. Aber es ist auch verdammt groß und alles dauert. In Hamamatsu konnte man sehr wenig machen, aber das was man machen konnte war sehr einfach. Raus an den Sandstrand? 10 Minuten mit dem Auto. Mit dem Kind in den Park? Kein Problem, direkt um die Ecke, Radfahren: Nach 30 Minuten schon in den Bergen. Tokyo hingegen hat so viel mehr tolle Orte, so gute Restaurants und im Westen so tolle Straßen durch die Berge. Aber um dorthin zu kommen musste ich eine Stunden mit der S-Bahn fahren, drei Mal umsteigen und in der schwitzenden Masse ausharren. Tokyo kostet so viel Energie und Zeit.
Von unserer Wohnung aus war ich aber mit dem Rad schnell am Tamagawa. Das ist eine der drei großen Flüsse der durch Tokyo fließt. Der Tamagawa entspringt westlich von Tokyo in den Bergen und man kann mehr oder minder an beiden Ufern überwiegend auf Fahrradwegen etwa 80 km weit bis zu einem Stausee, dem, Okutamako fahren. Das probierte ich in der ersten Zeit sehr oft, weil es die einfachste Art und Weise war aus der Stadt herauszukommen. Fahrradweg klingt jetzt erst mal gut, aber ALLE Japaner versuchen IMMER aus Tokyo heraus zu kommen, und deswegen ist es da extrem voll. Da wird gepicknickt, Baseball gespielt, gesoffen – und du versuchst Dich da mit dem Rad irgendwie durchzumoggeln. Wenn man Bremen kennt, könnte man sagen, dass ist etwa so wie 80 km Osterdeich bei einem Werder Heimspiel. Langsam kämpfte ich mich in die Berge vor und war mächtig stolz, als ich dann irgendwann einmal den Stausee erreichte. Ich fühlte mich wie Eddy Merckx und dann lernte ich auch die ersten anderen Radfahrer kennen, allen voran Juliane.
Juliane war im gleichen DAAD Stipendium wie ich gewesen, allerdings ein paar Jahre später und dann auch gleich in Tokyo geblieben. Sie kommt noch aus der DDR, war dort eine gute 400m Läuferin gewesen; ihr Vater was Kommandant eine Panzerfahrschule der NVA und Juliane hatte auch manchmal so etwas in ihr, aber wenn ich ihre langen schlanken Beine sah, dann war ich hin und weg und dachte an Mensch gewordene Gazellen. Also diese schnellen, grazilen Tiere, nicht diese langsamen, unförmigen Kisten aus Holland. Julianes Beine waren so schön, dass ich einmal, leicht betrunken, auf die Idee kam mir die Beine zu rasieren in der unsinnigen Hoffnung, dass sie dann so aussehen würden wie die Beine von Juliane. Leider war das aber so gar nicht der Fall, ich habe halt so dicke weiße Stempel wie unter den Konferenztischen von Putin und anschließend ein paar Schnittwunden.
Juliane hatte nicht nur schöne Beine, sondern auch einen sehr schönen Bauch.
Juliane hatte sich einer japanischen Trainingsgruppe angeschlossen den „Tamagawa Cyclists“ und ich durfte dann auch mal mitfahren. Im Gegensatz zu deutschen Radgruppen wo quasi alles erlaubt ist und es regelmäßig zu Stürzen und Wortgefechten kommt, die dann anschließend mit Genuss in diversen sozialen Medien weitergeführt werden, herrscht in einer japanischen Radsportgruppe eine strenge Hierarchie und noch strengere Regeln – nichts davon war mir im mindesten bekannt. So ist es zum Beispiel grob unhöflich den Chef zu überholen. Auch wenn der Chef der ist, der am längsten dabei, deshalb auch am ältesten ist und am langsamsten fährt. Es geht nicht, der Chef fährt voran und gibt die Richtung vor, etwas was radfahrende Punkrocker und NVA Gazellen nur sehr schwierig akzeptieren können.
Wir trafen uns an den Wochenende morgens an einer Bretterbude am Tamagawa die eine richtig gute Kneipe war und machten uns am Fluss lang auf den Weg in die Berge – immer schön hinter dem Chef her. Die Jungs – Frauen waren da natürlich sonst nicht dabei – kannten sich gut aus und zeigten uns die besten Straßen aus Tokyo raus. Und wir fuhren mit ihnen zu den Jedermannrennen. Mein erstes Rennen war bei einem 8 Stunden Staffelrennen auf einem Autorennkurs in Tsukuba – man war das aufregend. Aber, leider kommt einem dann irgendwo die eigene Kultur in die Quere. An einem Tag waren wir unterwegs in die Berge, wo wir in einer kleinen Pension an einer heißen Quelle übernachten wollten. Juliane hatte einen Platten und ich half ihr den Schlauch zu wechseln. Wir hielten kurz an einem Supermarkt, um uns zu verpflegen, schmissen den kaputten Schlauch weg und machten uns daran die anderen wieder einzuholen. Es war ein wunderschöner Tag und nachdem wir angekommen waren saßen wir in den heißen Quellen und schauten in die leicht Nebel verhangenen Berge und auf die Straße die wir hochgefahren waren. Wir grillten und prosteten uns mit Bier zu – es war der perfekte Abschluss für den perfekten Tag. Also, ich will hier nicht ungelenk dramaturgisch weiter Spannung aufbauen, ist ja schon klar, das jetzt irgendetwas schreckliches kommt. Aber wie schrecklich, das konnten Juliane und ich nicht ahnen.
Es fing an mit einer einfachen Frage: „Sag mal Juliane, wo ist denn der kaputte Schlauch, den Du gewechselt hast?“ „Ach, den habe ich am Supermarkt weggeschmissen.“ Schlagartig veränderte sich die Atmosphäre komplett. Es war, als wenn Schneewittchen mit den sieben Zwergen speist und guter Dinge ist, sich aber plötzlich herausstellt, dass die sieben Zwerge aus Nordkorea kommen und Maschinenpistolen unter ihren Mützen versteckt hatten.
„Bist Du verrückt? Der Schlauch, der dich so viele Kilometer gefahren hat? Der Schlauch, der dich immer loyal getragen hat, dich nie im Stich ließ und klaglos alle Stöße dämpfte? Den hast Du einfach so WEGGESCHMISSEN ????“
Wir waren beide etwas geschockt von der Wucht der Konversation und kamen gar nicht mehr zu Wort, da nun aus allen Richtungen in erregtem japanisch auf uns eingeredet wurde. Vieles haben wir in dem Moment auch nicht verstanden, aber die generelle Botschaft war schon klar: Ihr Barbaren!
Falls es jemand interessiert, was wir hätten tun müssen wäre: Den Schlauch mit nach Hause nehmen, im eigenen Garten vergraben, die Hände falten und ein kleines Dankesgebet aussprechen: „Danke kleiner Schlauch, dass Du mich so lange getragen hast, dass Du usw.“
Was wir getan haben war dann nicht mehr mit den Jungs zu fahren.
Ehrlich gesagt war das aber auch nicht so tragisch, denn in der Zwischenzeit hatten wir eine Reihe von sehr netten und lustigen Menschen kennengelernt mit denen das Radfahren sehr viel Spaß machte. Und die hießen: David, david, Tom, Ludwig, Steven, Jerome, Laurent, Dominic, Graham und Marek. Fällt da was auf? – richtig da ist kein japanischer Name dabei. Meine Freunde waren alles westliche Ausländer, so wie ich.
Wenn ich heute zurückschaue, dann hatte ich es geschafft in 14 Jahren mit genau vier Japanern eine vertrauensvolle Freundschaft aufzubauen: Ishiyama war mein Chef im Praktikum des Stipendiums. Nagashima war ein Kollege bei Schindler der lange im Ausland war. Frau Komatsu war eine Mitarbeiterin von mir und „Zeke“ Morikawa kannte ich noch aus meiner Studienzeit in Aachen. Ich finde, dass ist keine gute Bilanz, vier Freundschaften in 14 Jahren, aber nicht unbedingt untypisch für Ausländer in Japan, auch wenn sie so wie ich gut japanisch sprechen, mit einer Japanerin verheiratet sind und im großen und ganzen willig sich kulturell einzufügen. Es ist einfach so, dass es so viel einfacher ist Freundschaften mit anderen Westlern einzugehen und ich habe in Japan ein paar wirklich tolle Menschen kennengelernt, wie fast alle mit denen ich gemeinsam Rad gefahren bin.
Mein Eindruck ist, dass das Konzept von Freundschaft in Japan auch generell ein anderes ist. In Deutschland suchen wir uns Freunde, die uns sympathisch sind, ganz egal aus welcher sozialen Klasse, wo sie arbeiten, ob Mann oder Frau, oder was sie sonst so machen. Deutschland ist kein Ponyhof, aber im großen und ganzen machen wir in Punkto Freundschaft unser Ding und es gibt wenige Regeln. In Japan werden Freundschaften in der Schule, in der Uni und im Job geknüpft. Mann geht nicht in die Kneipe, spricht jemanden an und wird beste Freunde. Die Basis für eine Freundschaft ist in der Regel der gleiche Hintergrund. Deshalb gibt es dann auch nach der Heirat wenig gemeinsame Freunde – der Mann hat seine, die Frau hat ihre und man geht nicht zusammen raus. Ehrlich gesagt finde ich das ja auch gar nicht so schlecht, wenn ich an die ganzen Freundinnen meiner Frau aus der Eiskunstlaufabteilung von 1860 Bremen, und wenn meine Frau an meine Freunde aus dem Radsportbereich denke. Campagnolo und Kufenschleifen passen nicht wirklich zusammen.
Ich bin mir nicht sicher, wie das unter Japanern ist, aber zwischen meinen japanischen Freunden und mir gab es wenig, oder eigentlich keine Gespräche aus dem Bereich „Psyschohygiene“. Will sagen, ab und an brauche ich mal Menschen denen ich sagen kann wie doof meine Frau gerade ist, wie undankbar die Kinder, dass ich Symptome von Lungenkrebs glaube zu haben, dass ich nicht mehr so schnell Rad fahre wie früher und mich das an den nahenden Tod denken lässt usw.. Und meine Freunde erzählen mir dann von ihren Prostatabeschwerden, der Frau die sie verlassen hat, dass es im Bett nicht gut läuft und von den undankbaren und doofen Kinder. Das letzte Thema läuft an sich immer gut. Nachdem wir uns dann gegenseitig ausgeheult und gut getrunken haben geht es uns dann besser und wir gehen zurück zu unseren Frauen und Kindern. Ich finde, dass ist ein elementarer Teil von Freundschaft. Menschen mit denen ich so etwas nicht habe würd ich nicht als Freunde bezeichnen – na ja, vielleicht eher nicht als gute Freunde. All dies, würde ich jetzt mal behaupten, gibt es nicht so ausgeprägt in Japan und das macht den Aufbau einer Freundschaft so schwierig. Am Anfang läuft es gut an, alles ist nett, entwickelt sich prächtig; aber schon bald kommt man an einen Punkt wo es nicht mehr weitergeht. Wir erwarten jetzt gute Gespräche, aber die kommen nicht und wenn wir sie anfangen dann enden diese im nirgendwo.
Und dann nachdem es gerade so frustrierend mit den Japanern in Japan ist lernt man ein paar nette Ausländer kennen und wupp – es funktioniert wieder.
Mein Job war anstrengend und auch die Familie forderte Zeit und Energie, aber in den nächsten Jahren fuhren wir an fast jedem Wochenende gemeinsam mit anderen Bekannten raus und erkundigten in immer weiteren Radien die Gegend um Tokyo herum. Radsportler denken bei tollen Straßen vielleicht an den Stelvio, Sa Calobra oder den Mont Ventoux – ich denke an die vielen kleinen abgeschrankten asphaltierten Forstwege in den Bergen nördlich von Tokyo.
Landflucht und demographischer Wandel haben auf dem Land einiges angerichtet. Es ist daher eine japanische Besonderheit, dass die Größe der Wahlkreise schon lange nicht mehr im Verhältnis zu ihren Bevölkerungszahlen stehen. Die Landbevölkerung ist daher viel stärker im Parlament vertreten, als es proportional gerecht wäre und der Abgeordnete eines jeden Landkreises versucht so viel wie möglich an Geld für Projekte in seinen Wahlkreis zu bekommen. Und so ist das Straßennetz auf dem Land erstaunlich gut ausgebaut, es werden immer wieder neue Tunnel und Brücken gebaut um Orte miteinander zu verbinden die nur noch auf dem Papier existieren. Das ist volkswirtschaftlich schlecht für Japan, aber großartig für Radfahrer. Um das Holz aus den Bergen zu bekommen gibt es einsame Forstwege, die für den öffentlichen Verkehr gesperrt sind und teilweise mit Brücken und Tunnel ausgebaut wurden so dass man lange Strecken ganz ohne Autolärm oder Kontakt zu anderen Menschen zurücklegen kann. Ab und zu begegnen einem Wildschweine, Rehe oder Affen und wenn man Pech hat ein Bär, aber ansonsten lässt sich dort sehr schön fahren. Ich würde mal sagen, von allen Straßen die ich mit meinen Rädern gefahren bin sind dies die schönsten. Ist natürlich eher doof, das die dann gleich so weit weg von Deutschland bzw. Bremen sind.
Oder wir fuhren in den Süden Richtung Izu Halbinsel wo uns am Ende ein traumhafter Strand in der Nähe von Shimoda erwartete. Es gibt da einfach so viele Möglichkeiten etwas zu unternehmen und so viele Dinge zu sehen, dass es wie in einem Traun ist, dessen Inhalte man sich auswählen kann und trotzdem immer wieder überrascht morgens aufwacht.
Ab und an nahmen wir auch an Rennen teil. Der JCRC organsierte jedes Jahr eine Rennserie mit 10 bis 15 Rennen von denen viele in der Nähe von Tokyo durchgeführt wurden. Eines der schönsten Rennen, vor allem weil es quasi flach war, war das Rennen um den Saiko See in der Nähe des Fujis. Wir fuhren dort die Einzelrennen von 20 km Länge und ein paar Mal versuchten wir uns auch im Viererteam über 10 km was aber im absoluten Chaos endete. Natürlich gewannen wir nie etwas, wir waren wie die Fischer von San José: „Die Fischer von San José / schifften Tag und Nacht in die offene See / doch Fische, die fingen sie nie.“
Wir hatten eine Menge Spaß, kamen ganz schön herum und lernten eine Menge netter Menschen kennen, die aus oben beschriebenen Gründen nicht unsere Freunde wurden.
Ich war zwischenzeitlich weg von Schindler’s Liften zu einem amerikanischen Konzern in Japan gewechselt und deren Japanchef geworden. Mir wird leider schnell langweilig und daher ist meine Jobhalbwertszeit ziemlich genau fünf Jahre. Danach brauche ich etwas neues, und dass hängt mit zwei Schwächen zusammen: Der Unfähigkeit sich auszumalen, dass etwas kompliziert sein könnte und der Umgang mit Kollegen wenn es dann doch so ist. Aber im einzelnen.
Wenn ich gefragt werde eine neue Arbeit oder Aufgabe anzufangen, wie z.B. einen Staudamm in China zu bauen dann denke ich mir aus, wie das in groben Zügen gehen könnte und rufe meine Frau an und sage: „Ich bin dann mal für zwei Wochen weg.“ Leider ist das dann alles sehr kompliziert und viele Menschen sind auch nicht so begeistert und wollen mitmachen. Klar 180.000 Menschen zu überzeugen, dass ihr Wohnzimmer zum Aquarium wird wegen dem Stausee – und zwar für immer, das erzeugt Reibung. Aber ich bin immer begeistert dabei. Über die Alpen in sieben Tagen, 1.000 km und 20.000 Höhenmeter mit Übernachtung in der Turnhalle? Hey, meld‘ mich an. Eine konkurse Firma aus dem Sumpf ziehen? Klar, warum nicht? Aus China kam ich zwei Jahre später wieder und da dauerte es immer noch 4 Jahre bis der Damm fertig war, aber irgendwie kommt ja immer etwas vernünftiges raus wenn man sich Mühe gibt und keine Ahnung hat. Nur, beim zweiten Male, jetzt wo ich weiß wie aufreibend das ist, da bin deutlich weniger motiviert, weil ich jetzt Ahnung habe. Und da ich es beim ersten mal in meinem ungestümen Vorwärtsdrang leider mit allen Kollegen versaut habe, macht es noch weniger Spaß und ist noch schwieriger. Also brauche ich einen neuen Job, was nicht ja nicht so kompliziert sein kann.
Die Amis bezahlten extrem gut, aber leider hatte mich niemand darauf vorbereitet, dass die Amerikaner anders sind als wir. Also, als ich nach Japan geschickt wurde, da wurde mir von allen Seiten geraten ich solle aufpassen, nicht voreilig urteilen und ich würde sicherlich den einen oder anderen Kulturschock bekommen. Aber bei Amerikanern? Die sehen doch genauso aus wie wir! OK, also Amis tragen diese komischen Khakihosen und sagen unglaublich oft „Sensationell“ oder „Phantastisch“, aber hey wir Deutschen sind auch die einzigen die glauben, dass „Wie geht es Dir?“ eine Frage ist. Sensationell. Phantastisch. Und Dir?
Wie die Japaner, haben aber auch die Amis so ihre Eigenarten, wie übrigens auch die Deutschen, Jordanier oder Sudanesen. Das jede Kultur ihre Eigenarten hat ist das, was jede Kultur gemeinsam hat. Bei Amerikaner denkt man ja häufig an den Hort der Demokratie und das es lustig sein muss in Firmen wie facebook, instagram oder twitter zu arbeiten, weil das überall Kicker auf den Fluren stehen und es in der Kantine Hafermilch Latte und Superfood umsonst gibt. Dies unterscheidet sich deutlich, z.B. vom Bürgeramt Bremen Mitte auf der Stresemannstraße mit seinen ungebohnerten Vinylbodenbelägen, Bakelit Tresen und Security Gards die beides miteinander verbinden. Und es mag ja auch in Amerika Firmen geben, wo das alles prima läuft, aber meine Erfahrungen in der traditionellen Industrie sind eben anders, eher so wie ein Kindergarten in Nordkorea: Man singt zusammen hübsche Lieder und hört gut zu was der große Führer einem befiehlt. So war mir zum Beispiel nicht klar, dass die nette Suggestion „You might want to consider to…“ einfach auf Deutsch übersetzt bedeutet: „Das ist mal besser bis morgen erledigt, sonst…“ Oder mein Chef einmal behauptete etwas sei eine Firmenregelung und ich in fragte wo das denn stehen würde – in seinen Augen alles schlimmste Aufmüpfigkeiten – da antwortete er mir: „In dem Moment wo ich es ausspreche wird es zur Firmenregelung.“ Willkommen im nordkoreanischen Kindergarten: „Papi, woher wissen wir denn, dass der große Führer recht hat?“
Also mir war klar, dass ich da kündigen musste, es sei denn ich wollte das Datum meiner Kündigung nicht selber bestimmen.
Ich ging dann lustigerweise zum genauen Gegenteil, einem schwäbischen Familienunternehmen, das langweilige Produkte weltweit vertreibt und sich gemütlich Häfele ausspricht. Ich wurde dann 2006 ihr Japanchef und brachte es innerhalb kürzester Zeit fertig mich mit meinen Vorgänger und Jetzt-Chef völlig zu verkrachen worauf dann konsequenterweise und vor der Halbwertszeit von fünf Jahren im Frühjahr 2008 zum Ende des Jahres meine Kündigung folgte. OK, dann brauchte ich halt einen neuen Job, kann ja nicht so schwierig sein. Ist bis Montag erledigt. Aber natürlich war es viel komplizierter als ich gedacht hatte, denn 2008 schickte Lehmann die globale Wirtschaft die Achterbahn runter und mittlerweile war ich auch Mitte Vierzig.
Das war ein harter Schlag, denn ich hatte mein Leben lang Karriere gemacht und glaubte an ein gerechtes Prinzip von Leistung und Belohnung. Ich denke, Karriere machen ist wie eine Sonnenblume.
Zu Beginn sind wir alle in dem Stamm der aus dem Boden wächst, so wie man mit seinen Freunden zusammen in der Grundschule ist. Dann kommen alle gemeinsam in die Oberstufe, nein doch nicht alle, Albert fängt eine Ausbildung bei Philips an, Volker geht zur Polizei und Thomas verkauft Hambuger bei McD. Das sind so wie Blätter, die sich vom Stamm abschälen, zuerst noch in Richtung Sonne, aber tendentiel zeigen die Spitzen nach unten. Man schaut sich das an und lächelt, tja nicht geschafft. Man selber hat es ja eigentlich auch nicht verdient, aber alles ist gut, man ist weiter im Stamm. Meine Freunde und ich fangen an zu studieren, Achim auch, aber der macht Germanistik und fährt dann Taxi. Der erste Job kommt und ist nicht mehr Ingenieur, sondern Manager auf der Baustelle, während der Beste im Studium nie aus dem Planungsbüro herauskommt. Und so geht es weiter, rechts und links knicken die Blätter weg und man selber wächst schön mit nach oben im Stamm.
Aber Tatsache ist halt, dass es nur eine Blüte gibt und auf der ist nicht gerade viel Platz. Wir können nicht alle Winterkorns, Zetsches oder Ackermanns werden. Und irgendwann sind wir dann auch eines der Blätter und andere lächeln uns mitleidig und nachsichtig nach. Und genau an diesem Punkt meiner Karriere war ich gerade angelangt.
Nun ist es aber wichtig darüber nicht traurig zu sein. Nur weil man dem beruflichen Erfolg das ganze Leben lang hinterherhetzt heißt es ja nicht, dass der das ist was einen glücklichen gemacht hat. Und wenn der Tresor erst einmal voller Cash ist umso besser. Aber ich bin heute noch stolz, das ich nicht jammere weil ich nicht mehr Business Class fliegen darf – im Gegensatz zu meinem Sohn, der mich mit dreizehn Jahren bei dem ersten Economy Flug seines Lebens beim einsteigen nur angsterfüllt ansah und fragte: „Was, nach hinten?“ Oder dass es mir nichts ausmacht in der Jugendherberge am Dümmer See im Etagenbett mit einem Kollegen zu übernachten und auf dem Flur zu duschen. Das doofe bei auf dem Flur duschen ist eigentlich nur, dass alle sehen, wenn man sein Rad mitnimmt.
Ich fand also nicht wirklich einen Job, was mich dann langfristig wieder nach Deutschland gebracht hat, um etwas zu tun, was ich mir als absolut unkompliziert vorgestellt hatte, nämlich eine private Hochschule zu gründen. Ich meine, ist ja nur ein Bürohaus und kein Staudamm. Natürlich hat das auch geklappt und war unendlich kompliziert und ich würde das auch nie wieder tun, aber darum geht es ja hier zum Glück ja nicht.
Aber im Frühjahr 2008 war ich in Japan, hatte meine Karriere erst einmal geparkt und brauchte ein neues Ziel. Diese neue Aufgabe war es, japanischer Meister beim JCRC zu werden, und davon handelt dieses Buch auch wenn zwischenzeitlich der Eindruck entstanden ist, dass es hier gar nicht um Radfahren geht.
Das war eine schön unkomplizierte Aufgabe, die ich mit wenig Aufwand bis Ende des Jahres erledigen könnte. Dachte ich.
Ich stand September 1979 im Okie Dokie in Neuss, vor mir spielten Katapult aus Berlin harten Punk und hinter mir verschafften sich gerade ein paar Rocker gewaltsam Einlass. Barhocker flogen durch die Luft, eine Massenprügelei begann und ich machte instinktiv das, was harte Punker in diesen Situationen tun: auf die Damentoilette flüchten, raus durch das Fenster, auf das Vordach klettern und die Schlägerei mit einer Flache Bier in der Hand entspannt vom Vordach aus zu betrachten. Mein Puls war immer noch auf 190 und ich hatte ziemlich Schiss, dass einige von denen dort unten den Weg zu mir finden würden. aber ich wusste auch: So sollte mein Leben werden: Adrenalin bis zum Anschlag. So kam ich zum Radsport.
Ok, ich gebe zu, dass ist nicht der typische Anfang für ein Buch über den Radsport. Klassisch ist, dass Papa auch schon Rad gefahren ist (das stimmt, aber es war halt ein Klapprad und er fuhr fast immer mit Hemd und Krawatte), dass man schon mit zwei zum ersten Mal auf dem Rad saß und Rennen rund um den Sandkasten im Kindergarten fuhr und dann mit drei sein erstes Rennrad bekam. Aber all das war bei mir nicht der Fall. Ich war ein langweiliger Junge aus einer langweiligen Stadt: Mönchengladbach; Ich bekam mein erstes Rennrad mit dreizehn, ein Motobecane. Also, ich glaubte jedenfalls, dass es ein Rennrad sei, wurde aber zehn Jahre später eines besseren belehrt als ich es zur Reparatur zu Radsport Lenzen in Aachen brachte.
„Wir reparieren so was nicht, das ist kein Rennrad.“ „Klar ist das ein Rennrad, wieso denn nicht?“ „Also pass mal auf. Stell Dir vor Du bist auf einem Formel Eins Rennen auf dem Nürburgring. Wir sind in der Box und warten darauf, dass unsere Boliden zum Reifenwechsel reinkommen. Und dann fährst Du mit Deinem Trecker vor. Und jetzt raus!“
Radfahren machte mir Spaß, also die 800 Meter von zuhause zur Schule. Ich war nicht besonders sportlich, spielte Tischtennis und dazu Basketball beim Post SV, dem Looserclub aus unserer Stadt. Mein größter sportlicher Erfolg war ein siebter Platz bei den Schachmeisterschaften meines Gymnasiums in der 6. Klasse. Und trotzdem wurde ich 2008 als erster Ausländer japanischer Meister der D Klasse in der Serie des JCRC. Das JCRC steht für Japan Cycle Recing (ja wirklich) Club Association und vierzig Jahre lang hatte der JCRC Rennen in Japan organisiert. Wie war das nur möglich?
1998 ging ich aus beruflichen Gründen nach Japan und blieb dort die nächsten zwölf Jahre. Beim Arbeiten in Japan ist der Puls entweder auf 180, weil da nun einmal oft Dinge passieren die man nicht versteht und die einen wahnsinnig aufregen. Oder eben auf 50 weil man gerade mal wieder in einer Besprechung eingeschlafen ist. Ein 180er Beispiel gefälligst?
Wir hatten einmal im Büro Besuch aus der Schweiz und ich fragte den Manager, was er gerne trinken würde. Normale und höfliche Menschen sagen dann „ein Glas Wasser“, oder „egal, was immer sie haben“, oder „Kaffee“ oder „Tee“, gefolgt von einem „bitte“, aber der hier war eben nicht normal sondern ein hochrangiger Cheftyp aus dem Elfenbeinturm inmitten der Berge und der meinte nur „Bringen Sie mir ein Glas Grapefruchtsaft.“ Also ging ich raus zu meinen Leuten und sagte zu Herrn Kamoshita:
„Herr Kamoshita, tut mir wahnsinnig leid, aber unser Gast aus der Schweiz würde sehr gerne Grapefruchtsaft trinken. Würde es Ihnen etwas ausmachen kurz runter zum Supermarkt zu gehen und eine Literpackung Grapefruchtsaft zu kaufen?“ „Kein Problem, Chef.“
Ich ging zurück in die Besprechung und nach einer Weile kam auch Herrn Kamoshita rein mit einer Literpackung Orangensaft. „Tut mir leid, es gab keine Literpackung Grapefruchtsaft, da habe ich eine Literpackung Orangensaft gekauft, ich hoffe das ist OK.“
Klar war das OK, unser Gast war auch zufrieden und wir setzten die Besprechung fort. Weil ich das aber irgendwie komisch fand, ging ich danach runter in den Supermarkt und schaute mal selber nach. Und richtig, es gab dort keine Literpackung Grapefruchtsaft. Halbe Liter aber jede Menge. Das, erklärt in wenigen Worten, ist Japan.
Nachdem ich mich jahrelang zu viel aufgeregt hatte, oder zu viel eingepennt war verlor ich 2008 meinen Job und musste mich nach anderen Aktivitäten umsehen die meinen Adrenalinspiegel wieder auf ein angemessen hohes Niveau brachten. In der Zwischenzeit besaß ich ein sehr schickes Cervelo Soloist Rennrad, war fast jedes Wochenende in den Bergen westlich von Tokyo unterwegs und hatte auch schon an ein paar JCRC Rennen teilgenommen. In dem sehr komplizierten Klassensystem des JCRC war ich dadurch von X wie Anfänger in die D Klasse aufgestiegen. Man steigt da jeweils eine Klasse, bzw. einen Buchstaben auf in dem man unter die ersten sechs bei einem Rennen kommt. Jetzt ist das aber nicht so, dass ich so toll war, denn wenn man in X anfängt kommt man nach dem ersten Rennen nicht in die W Klasse, wie man jetzt denken könnte. Es sei denn durch eine Geschlechtsumwandlung, denn W ist die Frauenklasse (Women).
Nein, logischerweise geht es dann weiter mit F (weiter, äh feiter) . Ich weiß auch nicht warum, aber ich kam gleich in die E Klasse (Error) und dann war ich einmal mit viel Glück unter den ersten sechs in einem Rennen und stieg in die fand mich dann in D (da!) wieder. Kurz zur Info, nach D kommt dann wie erwartet C, B und A und dann, festhalten die „SA“ Klasse, gefolgt von der höchsten Klasse, der „SS“. Japan eben.
2008 veranstaltete der JCRC elf Rennen in der D Klasse, ich hatte mir die Teilnahmebedingungen auf japanisch komplett durchgelesen und festgestellt, dass wenn ich alle Rennen mit- und zu Ende fahren würde, gute Chancen hätte D Meister zu werden, und das begehrte JCRC Meister Jersey zu bekommen. Das ganze wurde noch dadurch komplizierter, dass ich auf keinen Fall in einem Rennen, bis auf das letzte der Saison, unter die ersten sechs kommen durfte. Denn dann hätte ich ab dem nächsten Rennen in der C Klasse starten müssen und da wäre ich dann komplett chancenlos gewesen.
Nun war ich wirklich kein guter Radfahrer, und schon gar nicht in Japan. Es war schon schwer genug, dort überhaupt ein Rad zu bekommen. Mein erstes Rad, ein Panasonic Stahlrahmen war eine Maßanfertigung, bei meinem zweiten Rad, einem Cannondale R1000 war der Verkäufer so glücklich überhaupt ein Rad in Rahmengröße 60 in ganz Japan aufgetrieben zu haben, dass er völlig irritiert von meiner Frage war, ob es das auch in einer anderen Farbe gäbe.
„Hey, ich habe das Bernsteinzimmer gefunden, und Sie können das für 1.000 € haben“ „Gibt’s das auch in ’ner anderen Farbe?“
Rahmen hören in Japan bei Größe 54 auf. Darüber wird es schwierig. Panasonic hat mal 1988 ein lustiges Werbevideo über einen 2 Meter großen Afrikaner gemacht, der ständig gegen den Türbalken läuft, nicht in die Badewanne passt und dem die Bettdecke einen halben Meter zu kurz ist, aber Panasonic baute das richtige, große Rad für ihn. So ähnlich war das auch bei mir.
Zudem ist Japan geographisch ja so ähnlich wie Lummerland: Eine Insel mit zwei Bergen und dem tiefen weiten Meer. Die Radrennen sind dementsprechend auf sehr hügeligen Strecken und es ist von Vorteil wenn man da klein ist und nicht viel Gewicht auf die Waage bringt. Meine Konkurrenz wog im Mittel etwa halb so viel wie ich, was sich als ganz entscheidender Nachteil herausstellen sollte – Berghoch waren die doppelt so schnell. Bei einem meiner ersten Rennen verlor ich bereits in der neutralisierten Phase den Anschluss, als es den Berg hochging.
Kurzum, ich war nicht sehr sportlich, ziemlich schwer, hatte wenig Rennerfahrung auf der einen Seite. Auf der anderen Seite war ich aber auch intelligent. Ich meine, die Firma hatte mich in Japan ja nicht angestellt, weil ich so gut Fußball spielen konnte, sondern weil ich ein toller Ingenieur war. Also, das glaubte ich zumindest. Und intelligente Menschen lesen eben erst einmal die Gebrauchsanweisung und ziehen den Stecker, bevor sie mit nassen Händen in den Toaster packen um ihn sauber zu machen. Und ich las die Teilnahmebedingungen und wusste, dass ich eine Chance beim JCRC hatte.
Die ist die Geschichte wie ich es (spoileralert) schaffte als unerfahrener, unsportlicher, schwerer Radfahrer japanischer D Meister zu werden. Alles an dieser Geschichte ist komplett wahr. Bis auf die Dinge die ich mir komplett ausgedacht habe.