Die elliptische Tretmühle in Hitachi-Naka

Um Sportlern die Gelegenheit zu geben auch an Rennen teilzunehmen, veranstaltete die JCRC das nächste Rennen auf einer gesperrten Teststrecke in Hitachi-Naka, etwa 140 km nördlich von Tokyo an der Küste und nicht auf einer noch weiter entfernten Vulkaninsel.

Die Teststrecke befindet sich auf dem Gelände des Japan Safe Driving Center. Sicheres Fahren nimmt in der öffentlichen Wahrnehmung in Japan einen besonderen Stellenwert ein. So muss zum Beispiel der Führerschein alle drei Jahre, wenn man Verkehrsverstöße begannen hat, bzw. alle fünf Jahre, wenn eben keine angefallen sind, verlängert werden. Dazu ist es notwendig zum Führerscheincenter zu gehen und eine Schulung über sich ergehen zu lassen. Bei mir bestand diese Schulung unter anderem darin, dass ich mir zusammen mit vielen anderen Japanern einen Film ansehen musste: „Mörder ohne Absicht!“

In dem Film ging es um einen Angestellten der Klimaanlagen repariert und der auf einer Firmenparty gut einen pichelt. Dort ruft ihn sein Chef an und bittet ihm zu einem Kunden zu fahren, um eine Anlage zu reparieren, was er dann nach einiger Diskussion auch tut. Man sieht ihn dann im Auto auf einer einsamen Straße.

Schnitt.

Eine Großmutter und ihre Enkelin kommen gut gelaunt und lachend von einer japanischen Kirmes zurück und gehen eine einsame Straße lang.

Schnitt.

Ist schon klar was folgt, oder? Jedenfalls verliert der Typ dann seine Arbeit und seine Familie mit den beiden Kindern muss aus ihren schönen, westlichen Haus in eine japanische Bruchbude an einer Bahnlinie ziehen. Er will sich bei den Eltern des verstorbenen Kindes entschuldigen, doch die schreien ihn nur an „Gib uns unsere Tochter zurück!“ Er muss dann ins Gefängnis, seine Frau arbeitet Tag und Nacht auf einer Baustelle, um die Kinder durchzubekommen. Man sieht sie dann mit den Worten „Ich bin so müde“ auf einem beschrankten Bahnübergang zugehen, es folgt das Bremsgeräusch eines Zuges.

Von da an geht es bergab. Klar, wir schon ganz unten im Tal aber jetzt geht es in den Mariannengraben. Am Ende des Filmes sieht man den Mann im Regen auf den Stufen vor dem Haus des getöteten Mädchens, er bollert an die die Tür und schreit „Verzeiht mir! Verzeiht mir!“ doch keiner macht auf. Die Kamera macht einen großen Schwenk weg von ihm auf die Hochstraße auf der viele Autos fahren und die subtile Message, für diejenigen, die es immer noch nicht kapiert haben ist: „Siehst Du, da fährst Du in Deinem Auto, aber wenn Du nicht aufpasst, dann bist Du Ruckzuck im Regen vor der Tür und bettelst um Verzeihung!“

Ich will jetzt nicht also obercool hier rüberkommen, aber angesichts der völligen Überzogenheit der Geschichte musste ich doch ein wenig schmunzeln. Neben mir pennten die meisten Männer, einige Frauen standen kurz vor einem Weinkrampf. Wie dem auch sei, als ich mich danach ins Auto setzte und nach Hause fuhr, war ich immer noch so stark unter dem Einfluss dieses Filmes, das ich kaum schneller fuhr als Fußgänger laufen und ständig nach links und rechts schaute. Mann, hatte ich einen Schiß, unglaublich. Zum Glück war dieses Gefühl nach ein paar Tagen wieder weg, ich raste todesmutig mit meinem Rad und baute darauf, dass andere Verkehrsteilnehmer auch diesen Film gesehen hatten.

Also zurück nach Hitachi-Naka: Die Strecke besteht aus einem, 5 km langem Oval mit breiter Fahrbahn und ohne irgendwelche Anstiege. Mit anderen Worten, es geht immer nur gerade aus oder ganz leicht links in die Kurve, es gibt Null Höhenmeter, die Fahrbahn ist breit genug um allen und jedem ausweichen zu können, der Belag perfekt: also der ideale Kurs für schwere Fahrer ohne eine gute Fahrtechnik so wie mich. Im Prinzip war das ein NASCAR Kurs und dann auch nur sechs Runden oder 30 km.
Entsprechend erfolgreich war ich bislang auch bei Rennen auf diesem Kurs gewesen. Im Jahr zuvor hatte ich mein bestes Resultat jemals erreicht einen 6. Platz, der mich dann auf das Podium und in die D-Klasse brachte. Ja, in Japan geht das Podium nicht nur bis zum Dritten, sondern bis zum Sechsten Platz weil das so mehr Menschen glücklich macht. Und dann kam auch noch P-Cup Talento Fuko und überreichte mir meine Urkunde – ich fühlte mich auf dem Höhepunkt meiner Radfahrkarriere in meiner schicken DDR Trainingsjacke als Fuko und ihre beiden massiven Dinger auf mich zukamen. Auch die anderen Resultate dort waren nicht schlecht, auch wenn sich das nicht in Podiumsplätzen ausdrücken lässt. Aber in der Regal kam ich immer weniger als eine halbe Minute hinter dem Sieger ins Ziel, sogar auf einem 160 km Langstreckenrennen, dass mit einem Schnitt von fast 40 km/hr endete. Ich war also vorsichtig optimistisch, das ich hier etwas reißen könnte.

Hitachi-Naka ist übrigens nach dem Unternehmen Hitachi benannt, oder umgekehrt. Genauso übrigens, surprise!, die Stadt Hitachi. Viel los ist da nicht, es gibt schönere Gegenden in Japan.

Der Samstag vor dem Rennen war ein wunderschöner Frühlingstag und ich hätte jede Menge Spaß auf dem Rad haben können, aber ich wollte mich ja für das Rennen am Sonntag schonen. Als ich morgens um halb Fünf aufwachte regnete es allerdings und das setzte sich dann die zwei Stunden fort, die ich mit dem Dienst BMW nach Hitachi-Naka brauchte. Ich kam an, liefe durch den Regen zur Registrierung, sagte hallo zu einigen Menschen die ich kannte und hätte jetzt eine Erkundigungsrunde zum aufwärmen fahren sollen. Aber wie gesagt, ich kannte den Kurs, der war nicht schwierig und so legte ich mich noch einmal eine halbe Stunde ins Auto und schlief.

Ich wachte auf, als Alain und Jacques aus meinem Team NFCC an meine Tür klopften. NFCC ist die Abkürzung für Nippon-French-Cyclyng-Club, die Mitglieder waren fast alle Franzosen, bis auf einige Japaner und ich war durch einen wilden Zufall dort gelandet. Zuerst wollten die mich nicht aufnehmen, da ich weder Franzose noch Japaner war, aber andererseits fuhr dort auch Tom, der aus Belgien kam und ich konnte mit meinem Argument punkten: „Ich komme aus dem Rheinland, wir waren sehr oft von den Franzosen besetzt – zu vielen anderen Zeitpunkten in der Geschichte wäre ich jetzt Franzose.“ Ja, im Rheinland benutzen wir viele französische Ausdrücke, wie z.B. „Mach keine Fisimatenten!“ was angeblich aus der Zeit kommt, als französische Offiziere rheinische Mädels mit den Worten „Visitez ma tente“ zu einem Date in ihren Zelten einluden.

Alain ist der unglaublichste Radfahrer, den ich je kennengelernt habe, Jacques hingegen komplett verrückt, wie die meisten Franzosen die ich kenne. Alain war in seiner Jugend französischer Studentenmeister; er hat nicht nur sehr gute Beine, sondern auch eine exzellente Technik. So ist er zum Beispiel in der Lage sich innerhalb von 15 Sekunden nach dem Start in einem dichtgedrängten Feld mit der Kraft seiner Ellenbogen von der letzten in die erste Reihe zu fahren. Ich habe das ein paar mal gesehen uns es ist wirklich erstaunlich wie subtil und wenig gewaltsam er das kann. Alain hatte mal versucht mir das beizubringen, aber mir fehlt einfach die subtile Beiläufigkeit in der Durchführung, so dass mir schon ein paar Mal Prügel angedroht wurde, als ich das versuchte. Alain hat auch ein sehr gutes Gefühl für den Zielsprint, so dass es eine sichere Sache war die letzten hundert Meter an seinem Hinterrad zu kleben.

Jacques hingegen arbeite als Personenschützer in der französischen Botschaft in Tokyo und sah aus, als wenn er gerade aus dem Irak gekommen wäre. Er hatte jede Menge Tätowierungen, ein Bowiemesser in der rechten Socke stecken und sprach weder Englisch noch Japanisch; es fehlte nur noch eine Augenklappe und der hätte zum Beispiel bei „Die Hard“ mitspielen können. Jacques sah so aus, als wenn man sich besser nicht mit ihm anlegt und deshalb kam er auch mit jeden Scheiß in Japan durch. Einmal drehte er sein Rad mitten im Feld kurz vor dem Start des Rennens um, setzte sich drauf, drehte an einem imaginären Lenkergasgriff und machte laute Geräusche: „Brumm Bruuummmm“. Oder wir fuhren mal gemeinsam mit der NFCC Trainigsgruppe in den Bergen. Die Gruppe hatte uns abgehängt, da wir mit Abstand die größten und schwersten Fahrer waren. An einem Anstieg überholten wir eine Frau auf einem Rad und Jacques fuhr vor mir, so dass ich mitbekam wie er sich auf gleicher Höhe zu ihr umdrehte und sie, wenn auch nett, anschrie: „DAIIIIIIJOOOUUUBUUU?“ Was etwa so viel heißt wie „Alles in Ordnung?“.

Die Frau fiel fast vor Terror und Angst vom Rad, stellte jegliches Treten ein, zitterte und fiel dann, weil sie ja nicht mehr fuhr, fast seitwärts vom Rad.
Kurz, er war verrückt und kam damit durch. Und Radfahren konnte er auch nicht. Jacques hielt einfach weder Linie noch Tempo, so dass er lebensgefährlich war hinter oder neben ihm zu fahren. Andererseits war er natürlich auch extrem sympathisch.

Wir machten uns dann mit unseren Rädern auf dem Weg zur Strecke und fuhren im strömenden Regen zwei Runden, um uns aufzuwärmen, so dass wir nicht so lange nass und kalt am Start stehen mussten, wo bereits die meisten der anderen 53 Fahrer nervös auf uns warteten.

Wir waren bereits am Start komplett durchnässt und dann ging es endlich los, so dass mir langsam wieder warm wurde. Am Start bin ich immer extra nervös, aber sobald das Rennen losgeht übernimmt das Adrenalin und ich kann mich gut konzentrieren maximale Kraft herauszuhauen. Was bei den Jedermannrennen ja auch notwendig ist, denn im Gegensatz zu Profirennen, wo sich die Kraft eingeteilt wird, um vielleicht einen Ausreisversuch zu wagen, oder beim Zielsprint noch genügend Power zu haben, ist es bei den meisten Jedermannrennen so, dass am Start alles, wirklich alles gegeben wird so lange es möglich ist. Und dann nach 15 Minuten fährt das übrig gebliebene Feld in völliger Erschöpfung die Strecke unambitioniert zu Ende.

Ich konnte dem Tempo des Feldes gut folgen und versuchte möglichst kräfteschonend und risikoarm im vorderen Drittel mitzufahren. Das Tempo variierte ein wenig, lag aber im Mittel bei etwa 40 km/hr. Normalerweise versuche ich im Rennen in Kurven möglichst weit innen zu fahren, denn wenn es in der Kurve jemanden umhaut, dann wird der durch die Zentrifugalkraft nach außen beschleunigt und räumt weitere Fahrer ab, die weiter außen fahren. Hier gab es aber praktisch keine Kurven, so dass ich versuchte mich möglichst an den Rändern des Feldes zu bewegen, damit ich bei einem Crash schnell ausweichen, oder ab und mal mit einem Zwischensprint Positionen aufholen konnte.

Nach der 2. Runde fuhr ich vorne weg über die Zielstrich, ich mache das ganze gerne weil das meine Kinder glücklich macht wenn ich wenigstens einmal vorne bin, aber irgendwie war das ja auch unnötig, da meine Familie gar nicht dabei war. Also ließ ich mich wieder im Feld zurückfallen, in dem sich immer noch mehr als 50 Fahrer befanden. dabei überholte mich Jacques, der sich an die Spitze des Feldes gesetzt hatte. Er fuhr wild von rechts nach links über die gesamte Breite der Fahrbahn, so als ob er imaginären Hindernissen ausweichen müsste und das Feld folgte seinen Schlangenlinien, was alle noch einmal eine Ticken mehr nervös machte. Alain hielt sich wie immer bedeckt im Feld auf und sparte seine Kräfte für den Schlusssprint auf. Ich hatte mittlerweile auf die harte Weise gelernt, dass man seinen Sprint erst 200m vor dem Ziel anzieht. Bei meinen ersten Rennen war ich noch 1 km vor dem Ziel losgehechelt, weil ich in dem irrsinnigen Glauben war, ich könnte 90 Sekunden auf extrem hoher Leistung fahren. Natürlich geht das nicht. Auch 500m gingen nicht und Alain machte mich dann darauf aufmerksam, das 200m das Optimum sind.

Die nächsten Runden passierte nichts, ich kam gut mit und fühlte mich nicht besonders erschöpft und nach der fünften wurde dann die Glocke für die letzte Runde eingeläutet. Sofort ging das Tempo einen Schlag höher und das Feld wurde nervöser. Fahrer überholten rechts und links und versuchten sich in eine gute Position für den Sprint zu bringen, es wurde viel rumgeschrien und geflucht. Etwa 3 km vor dem Ziel hörte ich direkt vor mir das Geräusch eines Sturzes. Das Feld vor mir war sehr dicht, es regnete immer noch, so dass ich nicht genau sehen konnte was vor sich ging, aber das Geräusch von sich aufreibendem Carbon, Lycra und Haut auf Asphalt ist eindeutig. Instinktiv wich ich scharf nach außen aus und zwar so weit, dass ich auf dem Gras neben der Strecke lande und alle Geschwindigkeit verliere. Der Sturz hatte sich etwa in der Mitte des Feldes abgespielt und so war das unbetroffene vordere Drittel schon ein ganzes Stück weit weg. Zum Glück überlegte ich nicht lange, trat so gut wie es ging in die Pedalen und konnte die Lücke zum Feld wieder schließen. In meinem Sog konnten dann auch einige Fahrer hinter mir wieder Anschluss finden.

Zum Glück ist das Feld nicht allzu schnell, sonst hätte ich ja auch nicht den Anschluss geschafft und das gibt mir die Möglichkeit mich ein wenig zu erholen. Etwas vor mir sehe ich Alain und ich hänge mich an sein Hinterrad. Alain orientiert sich in die Mitte des Feldes, dort wird es aber immer voller und am Ende muss ich sogar bremsen, damit ich nicht auf Alain auffahre. Aus irgendwelchen Gründen sprintet Alain nicht und ich bleibe hinter ihm bis uns die Strecke ausgeht und wir über die Ziellinie rollen.

Das Ergebnis ist dann auch nicht so toll, ich hatte das Gefühl, das hier mehr drin gewesen wäre: Alain wird 29., ich werde 31. und Jacques endet auf Platz 49. Von den 56 gestarteten Fahrern kommen 53 ins Ziel, davon 47 innerhalb von 10 Sekunden nach dem Gewinner. Der Rest war vermutlich vom Sturz betroffen.

Aber vielleicht war es auch ganz gut so. Ich war immerhin nicht gestürzt und hatte das Ziel erreicht. Wäre ich unter die ersten sechs gekommen, hätte das meinen Aufstieg in die C Klasse zur Folge gehabt: Also noch längere Rennen, noch härtere Konkurrenz und die Meisterschaft hätte ich mir ohnehin abschminken können.

Eigentlich hatte ich ja auch für ein weiteres 2 Stunden Rennen am Nachmittag angemeldet, aber ich wollte mein Glück an diesem Regentag wirklich nicht komplett ausreizen. Ich fuhr nach Hause und dachte daran, was ich an dem Tag alles hätte tolles machen können, statt 30 km durch den Regen zu fahren. Aber da ich ja ein Radrennfahrer bin fiel mir da auch wirklich nichts ein.

Fuko links, A und B Mädels rechts.


inem

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