Zurück in Gunma

Schön wäre es gewesen, wenn jedes Rennen des JCRC an einem anderen Ort stattgefunden hätte, von mir aus auch auf einer anderen Vulkaninsel. Aber Gott denkt und der JCRC lenkt. Und so kam es, dass 2008 von insgesamt zwölf Rennen, drei Rennen im Continental Cyclyng Centre in Gunma und zwei auf dem Kurs in Shuzenji stattfinden würden. Also wieder auf nach Gunma.

Einen Tag vorher war ich mit Alain, Jerome, einem ebenfalls verrückten Franzosen und seinem Sohn nach Tsukuba gefahren um dort auf dem Autorennkurs ein 8 Stunden Ausdauerrennen im Team zu fahren. Die Idee am Tag vor einem wichtigen Rennen zwei bis drei Stunden voll ausgepowert im Kreis zu fahren ist schon ziemlich bescheuert, aber zuerst sah es da ganz gut aus. Alain stand am Start, pfuschte sich mit Willen und Ellenbogen nach vorne und fuhr dann die nächsten Runden in der Spitzengruppe mit, bis ich ihn auf der Strecke ablöste. Danach ging es nur noch bergab und wir endeten acht Stunden später an Position 50.

Nach dem Rennen fuhr ich gleich weiter in Richtung Gunma. Jerome hatte mir während des Rennens ständig seine getrockneten Pflaumen zugesteckt, er schwörte darauf, dass diese die Leistung ins Unendliche steigern würden. Das mag sein, sie steigern allerdings auch die Darmaktivitäten ins Unermessliche. Das Auto konnte ich nur noch mit voll aufgedrehter Klimaanlage fahren und im Hotel schlief ich bei offenem Fenster, um mich nicht selber im Schlaf versehentlich zu töten.

Am nächsten Morgen waren die Beine immer noch schwer und ich machte mich auf die letzten Kilometer in Richtung CSC Gunma. Auch beim zweiten Mal konnte ich es noch nicht glauben, dass sich in dieser abgelegenen Ecke der Welt eine Radrennstrecke befindet sollte. Man verlässt die breiten Straßen und macht sich auf den Weg durch verlassene Kleinstädte und Dörfer, in denen die verbliebenen Einwohner nicht jünger sind als Neunzig. Ab und an stehen Pachinko Paläste am Straßenrand, die einzigen Orte, an denen sich Menschenmassen konzentrieren.

Wer Pachinko nicht kennt: Das ist im Prinzip wie Flipper, nur dass die Geräte kleiner sind, vertikal stehen und man das Spiel nicht mehr beeinflussen kann, wenn die Kugel erst einmal hoch geschossen wurde. Sie fällt dann in eins der vielen Löcher und je nachdem in welches gibt es verschiedene Möglichkeiten:

+ die Kugel verschwindet und wart nicht mehr gesehen

+ die Kugel verschwindet und man bekommt, eine oder mehrere Kugeln aus dem Gerät

+ da Gerät fängt an zu blinken und macht laute Geräusche und irgendetwas passiert

Japaner, meistens Männer verbringen Stunden in Pachinkoläden, meistens rauchend. Der Krach ist für Nicht-Pachinko Afinados komplett unerträglich, genauso wie es nicht verstanden werden kann, warum das Spaß machen soll oder entspannend ist. Aber genauso ist es für viele Japaner.

Die gewonnen Kugeln werden in großen Plastikbehältern gesammelt und können gegen Geld eingetauscht werden. Aber nicht im Pachinkoladen, denn Glücksspiel ist in Japan verboten. Stattdessen bekommt man Zigaretten, Lebensmittel oder andere Kleinigkeiten. Mit denen geht man dann aus dem Laden, drei Mal um die Ecke und zu einem kleinen Fenster in einer dunklen Seitengasse. Dort werden diese Dinge dann gegen Geld getauscht und vermutlich wieder zurück in den Pachinkoladen gebracht.

Jeder weiß, dass das so läuft, aber trotzdem kann sich keiner dazu durchringen gleich im Laden Geld zu geben, da sind die Japaner stur und lassen nicht mit Tradition und Kultur spaßen. Nicht umsonst ergab sich der letzte kämpfende Soldat Japans im 2. Weltkrieg, Onoda Hiro, nicht etwa 1945, sondern erst 1974 auf den Philippinen, und auch nur deswegen, weil ein japanischer Reporter seinen ehemaligen Vorgesetzten ausfindig gemacht hatte und der ihm den Befehl gab zu kapitulieren.

Veränderungen sind wirklich nicht so da Ding von Japanern. Und auch Gunma CSC sah noch genauso aus, wie ich in Erinnerung hatte, in etwa so wie die Siedlung Prypyat in der Nähe von Tschernobyl.

Das Rennen sollte diesmal über 6 Runden von jeweils 6 km Distanz gehen. Mein Ziel war wie immer nicht durch Überrundung disqualifiziert zu werden. Also musste ich 5 Runden mindestens in der gleichen Zeit fahren, in der die schnellen Fahrer 6 Runden zurücklegen, mit anderen Worten ich durfte maximal 16% langsamer sein als das Hauptfeld. Wäre ich noch in der Form vom Beginn der Saison gewesen, dann wäre das unmöglich gewesen, denn ich hatte es so gerade geschafft 4 Runden ohne Überrundung zu schaffen.

Auf der einen Seite war ich deutlich besser in Form und ich hatte sogar dem höheren Ziel der Meisterschaft wegen das Rauchen aufgehört. Auf der anderen Seite war ich am Tag vorher radmässig hyperaktiv gewesen und hatte auch noch kräftig zugenommen, wie das immer der Fall ist, wenn ich das rauschen stoppe.

Mein Leben als Radfahrer wäre so viel einfacher und schneller, wenn ich nicht so viel Zeit damit verbringen würde zu trainieren, sondern mich einfach darauf konzentrierte 25 kg abzunehmen, was durchaus machbar wäre. Es ist mir einfach unmöglich so viel zu trainieren, dass ich genug Muskelmasse habe mein Gewicht schnell nach vorne zu kapitulieren. Aber mit weniger Gewicht wäre das durchaus möglich, nur ich krieg’s einfach nicht hin. Stattdessen kaufe ich mir dann ein 500 Gramm leichteres Rennrad oder versuche 200 Gramm durch die Montage leichter Carbonlaufräder zu kompensieren. Mein Gefühl sagt mir allerdings auch, dass es den meisten Rennradfahrern ähnlich ergeht.

In Gunma traf ich Goro Akiyama von meinem Team NFCC. Es gibt einige wichtige Unterschiede zwischen Goro-San und mir, aber trotzdem verstehen wir uns prima: er ist Japaner, er wiegt um die 50 kg und er ist ein guter Radrennfahrer, der regelmäßig bei den JCRC Rennen in der A Klasse auf den vorderen Plätzen landet. Zusammen drehten wir eine geführte Trainingsrunde hinter einem Motorrad. Wie gesagt, die Abwärtspassagen sind kein Problem, aber sobald es bergauf ging konnte ich noch nicht einmal ansatzweise am Feld kleben bleiben, während Goro und seine Freunde quatschend und guter Laune hinter dem Motorrad hinterher fuhren. Und heiß und schwül war – wie es eben in Japan im Sommer heiß und schwül ist. Zum Glück sollte das erst einmal das letzte Rennen vor der Sommerpause sein; im September sollte es dann weitergehen auf dem Kurs in Shuzenji.

Das Rennen selber war wie ein deja-vu des ersten Rennens: Nach dem Start wurden wir zunächst durch ein Motorrad neutralisiert und fuhren dann in die Abfahrt, wo ich mich etwa in der Mitte des Feldes von 31 Fahrern befand. Als es danach in den Anstieg ging, fiel ich Position um Position zurück, bis mich schließlich auch der letzte Fahrer überholt hatte. Ich hatte an sich eine ganz ordentliche Rundenzeit von 11:01 Minuten, aber die schnellen Jungs lagen eher zwischen 9:30 und 10:00 Minuten. In der zweiten Runde wurde ich dann von dem D2 Feld (weil mehr als 50 Teilnehmer fuhren, war die D Klasse in 2 Gruppen eingeteilt), dass drei Minuten hinter uns gestartet war eingeholt. Ich versuchte Kontakt mit dem Feld zu halten, aber am Anstieg fuhren mir auch die alle davon; trotz meiner 11:31 min Rundenzeit.

Die nächsten Runden schaffte ich in 11:20 und 11:38 min, ich fuhr also sehr konstant, wurde dann aber von den Fahrern der Klasse E1 und E2 eingeholt, die jeweils drei Minuten nacheinander gestartet waren. Auf dem Kurs waren übrigens noch eine ganze Menge Fahrer aus dem früher gestarteten 5 Stunden Ausdauerrennen an die ich mich ab und an hängen konnte. Und ein Fahrer aus dem D2 Feld hatte etwa mein Tempo und wir fuhren in der Folge gemeinsam bis zum Ende. Nach fünf Runden und einer 11:45 min Runde war ich nun insgesamt 57:15 min auf dem Kurs, ganze vier Minuten schneller als beim letzten Rennen. Mit dieser Zeit hätte ich da sogar den 34. Platz geschafft und nicht den 37. und letzten. Mein Ziel hatte ich also erreicht, nun konnte ich nicht mehr überholt werden, das Feld kam dann etwa 2 Minuten nach mir ins Ziel. Die letzte Runde nahm ich dann leicht und rollte endlich über die Ziellinie, natürlich auf dem 28. und letzten Platz. Drei Teilnehmer hatten relativ schnell aufgegeben, ich war also ganz zufrieden, zumal ich jetzt sehr weit oben in der Gesamtwertung stand und nur noch wenige Fahrer auf mich aufschließen konnten.

In Ruhe schaute ich mir die anderen Rennen an, vor allem das von Goro-San in der C-Klasse. Wie immer fuhr er ganz hervorragend und belegte einen 4. Platz auf dem Podium.

Das klassische japanische erweiterte Podium mit Akiyama Goro auf der Vier.

Sobald er runter vom Podium war schnappte ich mir seine Siegerurkunde und rannte damit durch die Gegend, damit jeder wusste was für ein geiler Typ ich bin. Goro, der um 4 Uhr Morgens aufgestanden war und sich mit Zügen und Taxis durchgeschlagen hatte, und ich fuhren dann gemeinsam wieder Richtung Toyko. Im Wagen diskutierten wir die wichtigen Fragen die uns alle auf der Zunge liegen: Warum, zum Beispiel, haben die Straßen in Japan überwiegend keine Namen, aber quasi jede Straße mit Steigung. Goro meinte dazu nur, dass er vermutlich daran liegt, dass die Japaner Bergrennen lieben. Typen wie ich sind aber im Flachen unterwegs, deshalb geben wir Straßen Namen.

Ich erzählte ihm davon wie ich am Wochenende vorher mit Juliane, David und david in den Bergen von Tokyo unterwegs war. Vielleicht ist schon aufgefallen, dass ich einmal „david“ und einmal „David“ schreibe, dass hängt damit zusammen, dass es tatsächlich zwei Davids sind, von denen der eine größer ist als der andere.

Es waren gerade „Straßenverkehrssicherheitswochen“; d.h. überall hängen Poster und Fahnen, dass man vorsichtig fahren soll, um nicht zum Mörder ohne Absicht zu werden und die Polizei zeigt mehr Präsenz im Verkehr. Freiwillige stehen an den Zebrastreifen und bringen Kinder und alte Leute auf die andere Seite, egal ob sie wollen oder nicht. Wir waren in einem kleinen Ort am Tamagawa Fluß mit genau einer Kreuzung mit Ampel. Dort hatte sich unter einem Zelt die Polizei und viele Freiwillige versammelt, um zu essen und zu trinken, den Tag zu genießen und ab und zu jemanden über die Straße zu geleiten. Die Ampel war rot und David, Juliane und ich, die wir schon länger in Japan waren hielten an. david allerdings, der sich noch nicht so gut angepasst hatte wie wir, fuhr einfach über die rote Ampel. In dem Momente verstummte das eifrige Treiben im Zelt und es lag der Schock der Stille über dem ganzen Ort. So etwas war da noch nie passiert seit eine Horde Mongole 1234 durch den Ort getrabt war.

Goro hörte sich das alles nur geduldig an und bekam seine Vorurteile über Ausländer mal wieder brühwarm bestätigt. Da half es auch nicht, dass wir uns schon immer nur auf japanisch unterhielten.

Seit meiner Zeit in Japan habe ich da auch einen etwas anderen Blickwinkel auf das Thema „Integration“. Wir verlangen von Menschen die nach Deutschland kommen, dass sie sich an unsere Gesetze, Kultur, Sprache und Eigenarten anpassen sollen, in abnehmender Reihenfolge.

Die Gesetze nicht befolgen, das geht gar nicht, eine andere Religion zu haben ist OK, solange sie nicht Vollverschleierung für Frauen inkludiert, nach langer Zeit hier nicht richtig die deutsche Sprache zu beherrschen ist doof und Weißwurst oder Knipp muss man nicht unbedingt essen können – so etwa ist das gängige Bild von erfolgreicher Integration.

Ich selber fühlte mich in Japan ganz gut integriert, aber natürlich fuhr ich ständig bei rot über Ampeln oder machte anderen Mist. Und die japanische Kultur hatte ich auch schon einigermaßen angenommen, so fuhr ich z.B. niemals in einer Verkehrssicherheitswoche über eine rote Ampel. Aber meine Kinder gingen auf die deutsche Schule (das Äquivalent zur Koranschule in Japan), ich hatte kaum japanische Freunde und machte auch viele andere Dinger nicht, die für Japaner selbstverständlich sind. Wie zum Beispiel ständig Geschenke mitzubringen wenn man von einer Reise zurückkommt oder jemanden besucht um dann bei der Übergabe Dinge murmeln wie „Ich habe etwas langweiliges für Sie mitgebracht“ oder „Tut mir leid, dass dieses Geschenk nun zu ihrem Gepäck wird“. Und mit meiner Frau hatte ich ständig Konflikte, weil wir eben in bestimmten Punkten einfach von Geburt an verschiedener Auffassung war. Zwei gute Beispiele sind Fenster und Medikamente. Warum Häuser in Japan überhaupt Fenster haben ist mir ein komplettes Rätsel, denn diese bleiben immer verschlossen, die Klimaanlage läuft ja ist das Standardargument – und sind auch fast immer mit einem dicken Vorhang versehen, so dass die Nachbarn nicht reinschauen können. Im Sommer zog ich die Vorhänge zurück und machte die Fenster auf, so dass Licht und Luft in das Haus kommen. Mein Frau macht dann alles wieder dicht; übrigens auch noch heute 12 Jahre später in Bremen, wo Sonnenlicht nicht gerade die Regel ist. Ich glaube ich habe noch nie einen Vorhang zugezogen, oder ein Fenster geschlossen und meine Frau hat noch nie einen Vorhang oder ein Fenster geöffnet.

Ähnlich verhält es sich mit Medikamenten. Deutsche sind überwiegend der Ansicht, dass Medikamente unnatürlich sind, nur in äußersten Notfällen genommen werden sollten und am besten komplett auf die Selbstheilungskräfte des Körpers vertraut werden kann. Japaner denken hingegen, dass Medikamente gut sind, je mehr desto besser und bekommen dann entsprechend ihrer Erwartung bei einer Erkältung von ihrem Arzt jede Menge davon verschrieben. Die Diskussionen dass ich keine nehmen will, meine Frau aber jede Menge nehmen möchte sind längst vorbei und die Standpunkte des Anderen irgendwie akzeptiert. Aber was ist, wenn man gemeinsam Kinder hat, bekommen die nun jede Menge, die Hälfte oder gar nichts?

Das mögen jetzt relativ banale Beispiele sein, aber die Summe aller mehr oder minder banalen Beispiele definiert eine Kultur. Für die meisten Menschen und auch mich ist es unheimlich schwer, die eigene Kultur aufzugeben, auch wenn einige Sachen einfacher sind als andere. Ich finde es eben bescheuert einen Fahrradschlauch hinter dem Rad zu vergraben. Und ich denke aus diesem Blickwinkel müssen wir auch das Verhalten von anderen Menschen beurteilen, die in unserer Kultur leben. Da kann man Integration eigentlich nur langfristig und generationenübergreifend sehen.

Wie dem auch sei, ich war superfroh und extrem müde, als ich aus Gunma zurück endlich wieder zuhause war und integrierte mich nahtlos in mein Bett.

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