
Ich stand September 1979 im Okie Dokie in Neuss, vor mir spielten Katapult aus Berlin harten Punk und hinter mir verschafften sich gerade ein paar Rocker gewaltsam Einlass. Barhocker flogen durch die Luft, eine Massenprügelei begann und ich machte instinktiv das, was harte Punker in diesen Situationen tun: auf die Damentoilette flüchten, raus durch das Fenster, auf das Vordach klettern und die Schlägerei mit einer Flache Bier in der Hand entspannt vom Vordach aus zu betrachten. Mein Puls war immer noch auf 190 und ich hatte ziemlich Schiss, dass einige von denen dort unten den Weg zu mir finden würden. aber ich wusste auch: So sollte mein Leben werden: Adrenalin bis zum Anschlag. So kam ich zum Radsport.
Ok, ich gebe zu, dass ist nicht der typische Anfang für ein Buch über den Radsport. Klassisch ist, dass Papa auch schon Rad gefahren ist (das stimmt, aber es war halt ein Klapprad und er fuhr fast immer mit Hemd und Krawatte), dass man schon mit zwei zum ersten Mal auf dem Rad saß und Rennen rund um den Sandkasten im Kindergarten fuhr und dann mit drei sein erstes Rennrad bekam. Aber all das war bei mir nicht der Fall. Ich war ein langweiliger Junge aus einer langweiligen Stadt: Mönchengladbach; Ich bekam mein erstes Rennrad mit dreizehn, ein Motobecane. Also, ich glaubte jedenfalls, dass es ein Rennrad sei, wurde aber zehn Jahre später eines besseren belehrt als ich es zur Reparatur zu Radsport Lenzen in Aachen brachte.
„Wir reparieren so was nicht, das ist kein Rennrad.“
„Klar ist das ein Rennrad, wieso denn nicht?“
„Also pass mal auf. Stell Dir vor Du bist auf einem Formel Eins Rennen auf dem Nürburgring. Wir sind in der Box und warten darauf, dass unsere Boliden zum Reifenwechsel reinkommen. Und dann fährst Du mit Deinem Trecker vor. Und jetzt raus!“
Radfahren machte mir Spaß, also die 800 Meter von zuhause zur Schule. Ich war nicht besonders sportlich, spielte Tischtennis und dazu Basketball beim Post SV, dem Looserclub aus unserer Stadt. Mein größter sportlicher Erfolg war ein siebter Platz bei den Schachmeisterschaften meines Gymnasiums in der 6. Klasse. Und trotzdem wurde ich 2008 als erster Ausländer japanischer Meister der D Klasse in der Serie des JCRC. Das JCRC steht für Japan Cycle Recing (ja wirklich) Club Association und vierzig Jahre lang hatte der JCRC Rennen in Japan organisiert. Wie war das nur möglich?
1998 ging ich aus beruflichen Gründen nach Japan und blieb dort die nächsten zwölf Jahre. Beim Arbeiten in Japan ist der Puls entweder auf 180, weil da nun einmal oft Dinge passieren die man nicht versteht und die einen wahnsinnig aufregen. Oder eben auf 50 weil man gerade mal wieder in einer Besprechung eingeschlafen ist. Ein 180er Beispiel gefälligst?
Wir hatten einmal im Büro Besuch aus der Schweiz und ich fragte den Manager, was er gerne trinken würde. Normale und höfliche Menschen sagen dann „ein Glas Wasser“, oder „egal, was immer sie haben“, oder „Kaffee“ oder „Tee“, gefolgt von einem „bitte“, aber der hier war eben nicht normal sondern ein hochrangiger Cheftyp aus dem Elfenbeinturm inmitten der Berge und der meinte nur „Bringen Sie mir ein Glas Grapefruchtsaft.“ Also ging ich raus zu meinen Leuten und sagte zu Herrn Kamoshita:
„Herr Kamoshita, tut mir wahnsinnig leid, aber unser Gast aus der Schweiz würde sehr gerne Grapefruchtsaft trinken. Würde es Ihnen etwas ausmachen kurz runter zum Supermarkt zu gehen und eine Literpackung Grapefruchtsaft zu kaufen?“
„Kein Problem, Chef.“
Ich ging zurück in die Besprechung und nach einer Weile kam auch Herrn Kamoshita rein mit einer Literpackung Orangensaft.
„Tut mir leid, es gab keine Literpackung Grapefruchtsaft, da habe ich eine Literpackung Orangensaft gekauft, ich hoffe das ist OK.“
Klar war das OK, unser Gast war auch zufrieden und wir setzten die Besprechung fort. Weil ich das aber irgendwie komisch fand, ging ich danach runter in den Supermarkt und schaute mal selber nach. Und richtig, es gab dort keine Literpackung Grapefruchtsaft. Halbe Liter aber jede Menge. Das, erklärt in wenigen Worten, ist Japan.
Nachdem ich mich jahrelang zu viel aufgeregt hatte, oder zu viel eingepennt war verlor ich 2008 meinen Job und musste mich nach anderen Aktivitäten umsehen die meinen Adrenalinspiegel wieder auf ein angemessen hohes Niveau brachten. In der Zwischenzeit besaß ich ein sehr schickes Cervelo Soloist Rennrad, war fast jedes Wochenende in den Bergen westlich von Tokyo unterwegs und hatte auch schon an ein paar JCRC Rennen teilgenommen. In dem sehr komplizierten Klassensystem des JCRC war ich dadurch von X wie Anfänger in die D Klasse aufgestiegen. Man steigt da jeweils eine Klasse, bzw. einen Buchstaben auf in dem man unter die ersten sechs bei einem Rennen kommt. Jetzt ist das aber nicht so, dass ich so toll war, denn wenn man in X anfängt kommt man nach dem ersten Rennen nicht in die W Klasse, wie man jetzt denken könnte.
Es sei denn durch eine Geschlechtsumwandlung, denn W ist die Frauenklasse (Women).
Nein, logischerweise geht es dann weiter mit F (weiter, äh feiter) . Ich weiß auch nicht warum, aber ich kam gleich in die E Klasse (Error) und dann war ich einmal mit viel Glück unter den ersten sechs in einem Rennen und stieg in die fand mich dann in D (da!) wieder. Kurz zur Info, nach D kommt dann wie erwartet C, B und A und dann, festhalten die „SA“ Klasse, gefolgt von der höchsten Klasse, der „SS“. Japan eben.
2008 veranstaltete der JCRC elf Rennen in der D Klasse, ich hatte mir die Teilnahmebedingungen auf japanisch komplett durchgelesen und festgestellt, dass wenn ich alle Rennen mit- und zu Ende fahren würde, gute Chancen hätte D Meister zu werden, und das begehrte JCRC Meister Jersey zu bekommen. Das ganze wurde noch dadurch komplizierter, dass ich auf keinen Fall in einem Rennen, bis auf das letzte der Saison, unter die ersten sechs kommen durfte. Denn dann hätte ich ab dem nächsten Rennen in der C Klasse starten müssen und da wäre ich dann komplett chancenlos gewesen.
Nun war ich wirklich kein guter Radfahrer, und schon gar nicht in Japan. Es war schon schwer genug, dort überhaupt ein Rad zu bekommen. Mein erstes Rad, ein Panasonic Stahlrahmen war eine Maßanfertigung, bei meinem zweiten Rad, einem Cannondale R1000 war der Verkäufer so glücklich überhaupt ein Rad in Rahmengröße 60 in ganz Japan aufgetrieben zu haben, dass er völlig irritiert von meiner Frage war, ob es das auch in einer anderen Farbe gäbe.

„Hey, ich habe das Bernsteinzimmer gefunden, und Sie können das für 1.000 € haben“
„Gibt’s das auch in ’ner anderen Farbe?“
Rahmen hören in Japan bei Größe 54 auf. Darüber wird es schwierig. Panasonic hat mal 1988 ein lustiges Werbevideo über einen 2 Meter großen Afrikaner gemacht, der ständig gegen den Türbalken läuft, nicht in die Badewanne passt und dem die Bettdecke einen halben Meter zu kurz ist, aber Panasonic baute das richtige, große Rad für ihn. So ähnlich war das auch bei mir.
Zudem ist Japan geographisch ja so ähnlich wie Lummerland: Eine Insel mit zwei Bergen und dem tiefen weiten Meer. Die Radrennen sind dementsprechend auf sehr hügeligen Strecken und es ist von Vorteil wenn man da klein ist und nicht viel Gewicht auf die Waage bringt. Meine Konkurrenz wog im Mittel etwa halb so viel wie ich, was sich als ganz entscheidender Nachteil herausstellen sollte – Berghoch waren die doppelt so schnell. Bei einem meiner ersten Rennen verlor ich bereits in der neutralisierten Phase den Anschluss, als es den Berg hochging.
Kurzum, ich war nicht sehr sportlich, ziemlich schwer, hatte wenig Rennerfahrung auf der einen Seite. Auf der anderen Seite war ich aber auch intelligent. Ich meine, die Firma hatte mich in Japan ja nicht angestellt, weil ich so gut Fußball spielen konnte, sondern weil ich ein toller Ingenieur war. Also, das glaubte ich zumindest. Und intelligente Menschen lesen eben erst einmal die Gebrauchsanweisung und ziehen den Stecker, bevor sie mit nassen Händen in den Toaster packen um ihn sauber zu machen. Und ich las die Teilnahmebedingungen und wusste, dass ich eine Chance beim JCRC hatte.
Die ist die Geschichte wie ich es (spoileralert) schaffte als unerfahrener, unsportlicher, schwerer Radfahrer japanischer D Meister zu werden. Alles an dieser Geschichte ist komplett wahr. Bis auf die Dinge die ich mir komplett ausgedacht habe.
Natürlich finde ich auf dieser Seite weder neueste Trainingsmethoden noch aktuelle Materialtests. Und Bremen ist von Frankfurt/Main weit weg. Trotzdem weiß ich, dass der Tag gerettet ist, wenn mein Computer sagt, dass ein neuer Artikel auf dieser Seite erschienen ist. Bitte arbeite weiter an dem Buch!
Das fängt doch schon mal spannend an…
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