Hinweis: In diesem Teil kommt das Thema Radsport gar nicht vor und wird nur ab und an aus schlechtem Gewissen erwähnt. Also:

1979 als ich schwitzend vor Angst im Okie Dokie stand hätte ich nie gedacht, dass ich einen großen Teil meines Lebens in Japan verbringen würde. Klar, in dem Monat dachte ich sowieso nur daran, wie ich nicht eins auf die Fresse kriegen würde, und möglichst schnell abhauen könnte. Aber auch ansonsten auch machte ich mir Punk-no-future-mässig wenig Gedanken um meine Zukunft. Warum auch, ich spielte in einer Band aus Mönchengladbach, EA80, brachte ein Fanzine raus, Das Mob, und machte Abitur. Ach ja, und ich fuhr ab und an Rad.
Mit Japan hatte ich noch nichts zu tun, auch später als ich von Mönchengladbach in die Glitzer- und Japanermetropole Düsseldorf umzog. Dort stellte sich das erträumte adrenalinhalte Punkleben als eine doch eher drögge Mischung aus Altbier, aufgesetzter Coolness und schlechter Musik heraus. Noch schlimmer wurde es dann, als ich ein paar Jahre später nach Aachen zog, um mein Ingenieurstudium zu beginnen. Heute stellt sich Aachen dar, als wenn es das wahre Silicon Valley Deutschlands wäre, aber in den Achtzigern gab es da weder Japaner noch Frauen.
Letzteres war ein Problem, ersteres überhaupt nicht. Ich war letztens noch mal in der Stadt und hatte meine damalige Nachbarin Evelyn besucht. Nachts spazierten wir durch den Park auf den Lousberg hoch und setzten uns oben auf eine Bank mit Blick über die Stadt. Wir hatten ein paar Flaschen Bier dabei, ich rauchte eine Zigarette und es war sehr romantisch. Eine Bank weiter saßen zwei Männer und ich dachte „OK“, bis ich Gesprächsfetzen auffing, die etwa so waren:
„Bei der letzten Übung in Thermodynamik habe ich nicht verstanden, warum die Konvergenz idealer Gase…..Bernoulli-Hypothese zur Biegung langer gerader Balken…..usw. gähn“
Ja, so ist Aachen. Meine Ingenieursfreunde hörten keine Musik, fuhren kein Rad und waren total humorlos. Als ich mit dreien von denen nach einer Vorlesung Richtung Stadt ging und gerade einen, wie ich fand, extrem lustigen Witz erzählte (es war der lustigste Witz der Welt und der Effekt war wie bei Monty Python, leider kann ich mich so gar nicht mehr daran erinnern) spielte sich folgendes ab:
Ich: „… und dann sagte der Arzt zu der Frau:…“
Ingenieursfreund: „So, macht’s gut, ich geh‘ noch in die Mensa, wir sehen uns dann später bei Wasserbau.“
Meine Freunde hatten auch keine Bücher; wenn ich denen eins zum Geburtstag schenkte dann hieß es: „Ein Buch? Aber ich habe doch schon eins. Da brauche ich ja bald ein Regal, hahahaha.“
Genauer gesagt hatten sie drei Bücher: Taschenbuch der Mathematik von Bronstein & Semendjajew, die
Louis Vuitton Tasche des Ingenieurs, und zwei Werner Comics. Das war gut für mich, weil ich schreiben konnte und in Gruppenarbeiten immer die angenehme Aufgabe hatte die Ergänzungsberichte anzufertigen. An dem Wort „Ergänzung“ merkt man schon, wie wichtig Text dem Ingenieur, im Gegensatz zu Tabellen, Graphiken und Formeln ist – nämlich gar nicht. Die klassische Diplomarbeit in Aachen fing an mit: „Wie in Abbildung 1.1.1.1.1 erkennbar …“ und endete mit einer Tabelle 27.23.8.13.3.
Ich hingegen verfasste elaborate Texte, die von divergierende Klothoiden in der Unendlichkeit des Tannhäuser Tores berichteten und kam mir vor wie Rutger Hauer in Blade Runner. Diese Berichte dienten vor allem dazu unseren Arbeiten das nötige Volumen zu verpassen, gelesen wurden sie eher selten. Ich war einmal bei einem Assistenten im Fach Abwasserreinigung in der Sprechstunde und hatte noch ein paar Fragen zu meinem Exkursionsbericht, als ein anderer Student reinkam und seinen Bericht abgab. Der Assistent meinte dann, er solle ihn in den Eingangskorb legen und könne den in zwei, drei Wochen abholen. Während er dann mit mir weitersprach, nahm er den Bericht, stempelte auf die zweite Seite „Bestanden“ und legte ihn in den Ausgangskorb.
Das sind so die Momente, wo einem das ganze menschliche Dasein und Tun total sinnlos vorkommt.
Jedenfalls war ich nun zu Unrecht sehr selbstbewusst, was meine schreiberischen Fähigkeiten anging und als ich im Frühjahr 1985 eine Anzeige der Japan Foundation im Spiegel sah, die zu einem Aufsatzwettbewerb in Japan einlud war ich sofort Feuer und Flamme. Es gab einen zweiwöchigen Aufenthalt dort zu gewinnen und dazu musste man nur einen Aufsatz zum Thema „Mein Bild von Japan“ verfassen. Wenn meine Freunde mich fragten, wo ich im Sommer den Urlaub verbringen würde, sagte ich nur kurz und lässig: „Japan. Bin eingeladen.“
Zum Glück war ich nicht größenwahnsinnig und ließ meinen Aufsatz vor der Abgabe von Christian Bieniek durchlesen. Christian kannte ich aus Düsseldorf; er war ein begnadeter Musiker, ein begnadeter Schreiber, und zudem auch noch leicht exzentrisch – später wurde er Kinderbuchautor. Vor allem aber war er der witzigste Mensch, den ich je in meinem Leben kennengelernt hatte – bis auf das rothaarige Mädchen, das in der Bäckerei neben Woolworth arbeitete. Christian fand meinen schnell geschriebenen und ganz schlecht recherchierten Text über das Image von Japanern in Deutschland zu recht fürchterlich und versuchte dann zu retten, was es zu retten gab, aber auch so war das Ergebnis, fast vierzig Jahre später betrachtet, immer noch ein furchtbares Machwerk von Vorurteilen, Plattitüden, Halbwahrheiten und Witzeleien. So hiess es z.B. darin, dass Japaner in der internationalen Musikszene immer präsenter werden. Man denkt da ja vielleicht an Yoko Ono, oder Ryuichi Sakamoto vom Yellow Magic Orchestra, aber ich dachte an Zeke Manyika, den Schlagzeuger des britischen One-Hit-Wonder Orange Juice. Für mich klang der Name irgendwie japanisch und ich erwähnte ihn, aber wenn ich vorher mal einen Blick auf die Rückseite der Orange Juice LP geworfen hätte, dann wäre mir klar gewesen, dass Zeke Manyika aus Simbawne, und nicht aus Japan stammt.

Das war aber auch egal, denn in der Japan Foundation saßen viele Menschen des Types: „Assistent im Fachbereich Abwasserreinigung“. Heute glaube ich, dass da noch nie ein Ingenieur einen Aufsatz eingereicht hatte und ich alleine aus diesem Grund (Spoiler Alert) ausgewählt wurde. Ja, genau, neben etwa 40 weiteren Gewinnern aus der EU, bekam ich dann eines Tages von der japanischen Botschaft einen Anruf, der mir mitteilte, dass ich im September für zwei Wochen nach Japan fliegen würde. Ich weiß nicht ob das der glücklichste Moment meines Lebens war, aber es war mit Abstand der glücklichste Moment in Aachen. Manchmal, wenn ich mit meinem Leben nicht zufrieden bin dann denke ich daran, was aus mir geworden wäre, wenn ich damals nicht nach Tokyo gegangen wäre. Vermutlich hätte ich in Aachen promoviert und meine Doktorarbeit über die symbiotische Verbindung von Hochlochziegeln und Mörtelfugen geschrieben, ein irrsinniges spannendes Thema das ca. 36 Menschen in der Welt interessiert und mit der man garantiert keine Frauen bekommt, schon gar nicht in Aachen. Stattdessen unterhalte ich mich heute über den Unterschied zwischen der Bremsleistung einer Shimano Dura Ace BR-7403 (meine Lieblingsbremse!) und einer Shimano Dura Ace BR-9100, ein Thema das garantiert mehr als 37 Menschen auf dieser Welt interessiert, bei Frauen allerdings gleichsam wenig beliebt ist.
Davor war ich in meinem Leben einmal geflogen – von Düsseldorf nach Zürich – und jetzt saß ich in der Businessclass einer 747 der Japan Airlines und machte ich auf den 23-stündigen Weg über Alaska nach Tokyo. 1985 gab es noch die UdSSR und die erlaube es nicht über ihren Luftraum zu fliegen, das hatte die Führung noch 1983 sehr klar gemacht, als sie eine koreanische Passagiermaschine abschießen ließen. Und so wurde Amerika der zweite Kontinent auf den ich meinen Fuß setzte.
Ich kann jetzt nur den Menschen sagen, die wie ich aus Mönchengladbach kommen: Tokyo ist anders. Und irgendwie, ehrlich gesagt, auch besser – Sorry Gladbach. Tokyo ist auch anders als Düsseldorf (mehr Glitzer) und auch als Aachen (mehr Frauen). Wir wurden wie Rockstars begrüßt und bekamen im Außenministerium dicke Briefumschläge mit vielen druckfrischen 10.000 Yen Scheinen (etwa €100), damit wir auch richtig Spaß in der Stadt haben können, denn billig war es da leider nicht. Und dann machte ich dort Dinge, von denen ich in Aachen nur träumen konnte! Ich fuhr mit 300 Sachen im Superschnellzug nach Kyoto, pinkelte in Pissoirs in denen goldfarbene Eiswürfel geschüttet waren, sprach mit gutaussehenden Frauen und tanzte in Discos, von denen zehn in einem Hochhaus übereinander gestapelt waren. Das war definitiv noch besser als das Okie Dokie! Ich badete in heißen Quellen mitten im Schnee und von hinten schauten mir dabei Affen zu oder zeigten ihre roten Ärsche. Ich fuhr im Bus über die aufgeständerte Stadtautobahn Tokyos und schaute direkt in erleuchtete Büros, Restaurants und Wohnungen hinein die nur wenige Meter weg waren. Ich trank viel Alkohol, aß eine Menge Dinge von denen ich nicht exakt wusste was sie waren und fuhr überhaupt kein Rad.
In den kommenden Jahren versuchte ich dann die Voraussetzungen zu legen dort wieder hin zu kommen. Spaßeshalber fing ich an japanisch zu lernen und lernte meinen ersten japanischen Freund, Morikawa Koichi, kennen, den ich spaßeshalber „Zeke“ nannte. Nach drei Jahren konnte ich immer noch kein japanisch, hatte aber so ziemlich jedes mögliche leckere japanische Gericht bei ihm zuhause gegessen.
Und dann musste ich auch noch das Studium zu Ende bringen und das dauerte dann noch Mal fast fünf lange und langweilige Jahre. Am Ende verfasste ich meine Diplomarbeit zum Thema „Optimierung einer Vorrichtung zur Prüfung der Zugfestigkeit von Mörtelprismen mittels der FE Methode“ und währenddessen verlor ich die wenigen Kontakte die ich nach Japan hatte. Ich hatte das Gefühl in die falsche Richtung zu driften und das mein Leben unter einer Unmenge von Hochlochziegeln begraben wird. Kurz vor Studienende bewarb ich mich daher für ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für zwei Jahre in Japan: Ein Jahr an einer Sprachschule in Tokyo und ein weiteres Jahr als Praktikant in einem Unternehmen; gut dotiert. Ich will nicht als gierig erscheinen, aber ohne Geld macht Tokyo echt keinen Spaß: Kein Superschnellzug, keine Pissoirs mit Goldgefärbten Eiswürfeln, keine heißen Quellen und wenig leckeres Essen.
Wie sagt man so langweilig: Das Schicksal war mir wieder gnädig. Meine Bewerbung fand Anklang, ich wurde zum Interview nach Bonn bestellt und irgendwie konnte ich die Menschen dort wieder davon überzeugen mich nach Tokyo zu lassen. Und so dass ich im September 1990 wieder in einer 747 der Lufthansa auf dem direktem Weg über Russland nach Tokyo.
In den zwei Jahren dort lernte ich ordentlich japanisch und hatte jede Menge Spaß auch wenn ich zusammen mit meinem Freund Jürgen in einer ziemlichen Bruchbude am Rande der Stadt wohnte. Wir hatten keine Klimaanlage, im Sommer konnten wir uns also nicht zuhause tagsüber aufhalten und im Winter hatten wir tragbare Gasöfen mit Schläuchen, die wir von einem Zimmer mit in das andere nahmen und dort an den Gashahn anschlossen. Meine Vorstellung von dem Hochtechnologieland Japan bekam da dann auch die ersten Risse: Wir sehen die USA und denken: Wow, die sind auf den Mond geflogen und haben Apple, Google, Flugzeugträger und Hamburger so hoch wie das World Trade Center (denn letztendlich: gleiches Schicksal), da ist dann auch alles andere tippi toppi. Nein, ist aber nicht so, in dem Hotel in Amerika wo ich abstieg, waren die Lichtschalter aus dem Mittelalter und die Fenster derart undicht, dass man auch gleich die Fensteröffnung mit einer Plastikplane hätte abdichten können. Und auch viele andere Dinge dort sind da ja echt gruselig.
Zum Glück gibt es ja Nordkorea. Die können Atomraketen bauen, aber bringen es nicht auf die Kette ihre Bevölkerung zu ernähren. So sind an sich alle Länder dieser Welt.
In Japan gab es 1990 bereits neben superpünktlichen Superschnellzügen, Gameboys, elektronischen Lexikas, Kaffee in Dosen und kleinen Faxmaschinen eben auch Waschmaschinen die nur mit kaltem Wasser wuschen, Toiletten die aus wenig mehr als einem Loch im Boden bestanden und vor allem viel Papier und noch mehr rote Stempel mit denen alles zwei-, drei- vierfach genehmigt werden musste. Rein zufällig spazierte ich mal in eine Ausstellung von Panasonic – die machten quasi alles vom Walkman bis zum Kühlschrank – und dort stand ein Stahlrennrad von Panasonic mit der brandneuen Shimano Dura Ace 7400 Schaltung. Das war zum ersten Mal, dass Schaltung und Bremsen in einem Hebel zusammen integriert waren und irrsinnig revolutionär – und dann auch noch mit 2 x 8 Gängen. Ist mehr als dreißig Jahre später immer noch so, gibt halt nur mehr Gänge. Ich machte mich dann auf die Suche nach einem Fahrrad und fuhr mit Jürgen raus zur amerikanischen Airbase nach Yokota, weil Jürgen gehört hatte, dass es dort günstige Räder in unserer Größe geben sollte. Das war nicht so und kostete uns beiden einen Tag unseres Lebens.
Wir wollten dann auf die Base, wurden aber von Wachposten am Eingang gestoppt. Da wir auch niemanden auf der Base kannten liessen sie uns auch nicht rein. Die Idee einfach so auf die Base zu gehen war auch ziemlich naiv – nein also eigentlich total bescheuert. Also schauten wir uns in der Nähe nach Radläden um. Die Gegend um Yokota ist nicht wirklich schön und Radläden gibt es dort auch nicht, aber zum Glück sprachen dort viele Menschen leidlich englisch, was sonst nicht so der Fall war. Jürgen schlug dann zu und kaufte sich ein „Shogun“ Rad. Das war damals schon scheiße und ist auch nach nostalgischen heutigen Maßstäben einfach nur scheiße. Ich konnte mich nicht entscheiden und ging ein paar Tage später zu einem kleinen Radhändler in der Nähe von Aburamen, den ich über den Lonely Planet Reiseführer gefunden hatte. Den Laden gibt es heute nicht mehr.
Der Laden war winzig und total dunkel. Aber der Mann hatte Ahnung, wie ich nun im Nachhinein weiß und bestellte für mich bei Panasonic ein blaues Rennrad in meiner Größe. Das ging so, dass er mich eine Menge Dinge fragte die ich leidlich verstand und dann ein Formblatt mit dem Fax zu Panasonic schickte und kurz darauf eine Antwort bekam. Das Rad war also bestellt und ein paar Wochen später sollte ich es dann abholen. Das komplette Zusammenbauen fand in dem Radladen statt, Panasonic lieferte nur den Rahmen und die Komponenten, alles andere musste der Radhändler machen, einschließlich des Einspeichens der Laufräder.
Für den Preis von 60.000 Yen, etwa € 500, bekam ich einen dunkelblauen Stahlrahmen mit einer kompletten 7-Gang Shimano 600 Trikolore Ausstattung. Die Kurbelblätter waren ovale Bio-Space, was heute alle bescheuert finden aber damals wie heute total egal war. Alles in allem war das ein Rad für dass man sich nicht schämen musste und das vielleicht sogar Radsport Lenzen repariert hätte.
Nach dem Kauf mußte ich allerdings nach Hause fahren und ich hatte keine Ahnung wie ich dorthin kam. Also versuchte ich erst einmal zum nächsten größeren Bahnhof, nach Shibuya durchzuschlagen. Von Shibuya aus ging die Inokashira S-Bahnlinie zu meinem Heimatbahnhof Higashi-Matsubara und machte vorher an dem Kreuzungsbahnhof Shimokitazawa halt. Von dem weiteren nördlich gelegenen Großbahnhof Shinjuku ging die Odakyu Linie ebenfalls nach Shimokitazawa. Also, dachte ich wenn ich auf der nördlichen Seite der Inokashira Linie bleibe und immer südlich der Odakyu Linie , dann komme ich irgendwann einmal nach Shimokitazawa. So fuhr ich irgendwie kreuz und quer zwischen die Bahnlinien bis ich dann drei Stunden später in Shimokitazawa ankam. Ein absoluter, langanhaltender Alptraum. Ich versuchte dann die nächsten beiden Stopps bis zu meinem Bahnhof an der Inokashiralinie zu bleiben, verfuhr mich und eine weitere Stunde später hatte ich keine Ahnung wo ich war und sprach auf englisch eine Frau an. Die zum Glück auch gut englisch sprach und mir den Weg zum Bahnhof zeigte. Später fand ich heraus, dass ich nur etwa 200m von meiner Wohnung entfernt war.
Später kaufte ich mir einen Straßenatlas und fuhr häufig damit durch Tokyo und die nähere Umgebung. Eines der ersten Teile, die ich mir für das Rad kaufte war ein digitaler Tacho von Cateye. Mit Rad, Tacho und Atlas machte ich mich dann auf den Weg Tokyo zu erkunden. Das geht, wenn man etwa 200 Jahre Zeit hat aber auch später nach all den Jahren kannte ich immer nur wenige Strecken durch die Stadt und war rettungslos verloren, wenn ich ein, zwei mal links und rechts in kleine Seitenstraßen abbog. Auf einmal ist man weg von der großen Stadt in einem Dorf.

Mutiger geworden machte ich mich dann auf die ersten Touren raus aus der Stadt. Ich fuhr mit meinem Freund Tobias nach Kamakura an der Küste durch endlose Siedlungs- und Industrielandschaft. Wir hatten zwar einen Straßenatlas dabei, verfuhren uns aber doch ständig. Japaner zu fragen war quasi sinnlos, es war als hätten die noch nie in ihrem Leben eine Straßenkarte gesehen und konnten damit nichts anfangen. Japaner können das aber nicht zugeben, bzw. sie zeigen das auf eine Art und Weise die andere Japaner verstehen – wir aber nicht. Diese Art und Weise besteht aus einem langen Betrachten der Karte, wiederholtem drehen, murmeln von „Sooo desuu neee“, zupfen am rechten Ohrläppchen und dem plötzlichen und scharfen Einsaugens sämtlichen verfügbaren Sauerstoffes in der unmittelbaren Umgebung. Ein normaler Japaner weiß dann sofort: „Eh, der Honk hat ja gar keinen Schimmer!“, aber wir dachten einfach, na ja, der guckt ja, spricht, hört und lebt noch, also irgendwann wird der schon mit was vernünftigem rauskommen. Das kostete uns wieder einen halben Tag unseres Lebens.
Da ich zum ersten Mal mit Hakenpedalen fuhr, kippte ich auch zum ersten Mal an einer Ampel beim Anhalten mit dem Rad um, dieses Erlebnis kennt ja wirklich jeder. Am späten Nachmittag kamen wir in Kamakura an, blieben etwa 15 Minuten am Strand und machten uns schleunigst auf den Weg zurück um noch vor Mitternacht zuhause zu sein. Jahre später fuhr ich das in sechs Stunden locker hin und zurück, aber beim ersten mal war es eben auch am aufregendsten.
In der Woche fuhr ich nachts eine dicke Straße, die Inokashira-Dori, raus zu meiner Fast-Freundin Barbara G. nach Musahi-Sakai im Westen der Stadt. Das klingt nah, waren aber auch fast 20 km. Zwar gab es in Tokyo mehr Japaner als in Aachen, aber in Punkto Frauen gab es für mich persönlich nicht so viel Unterschied. Nachts die Inokashira Dori runterzubrettern war aber fantastisch. Es war warm, dunkel und schnell, also eigentlich wie im Okie Dokie.
Dann, im Sommer 1992 lief mein Stipendium aus, das Geld ging zu Ende und ich musste wieder zurück nach Deutschland und, noch schlimmer, anfangen richtig zu arbeiten und Geld zu verdienen. Ich hatte Kazuko kennengelernt und wir heirateten und zogen für kurze Zeit zurück in die Glitzermetropole Düsseldorf, wo ich einen Job bei Hochtief in Essen in der Auslandsabteilung annahm. In der Folgezeit war ich dann viel im Asien unterwegs und versuchte meine Karriere und Familie in Schwung zu bringen, das ging dann leider nur auf Kosten von Rad, Sport und Fitness. Ich hatte mein Panasonic Rennrad mit nach Deutschland gebracht und fuhr an den Wochenenden, wenn ich in Deutschland war, gerne von Düsseldorf nach Essen an die Ruhr und von da aus durch das bergische Land nach Langenberg und Grafenberg. Ich war nicht ambitioniert, aber auch keine Schnecke; Berge fahren konnte ich überhaupt nicht aber ich hatte Spaß daran.
1994 wurde ich dann für zwei Jahre auf eine Staudammbaustelle am gelben Fluß nach China versetzt und nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland recht schnell wieder 1996 nach Malaysia. Nein, das war nicht der Dreischluchtenstaudamm den man hier noch kennt, sondern ein fast ebenso hoher, aber dummerweise total in der chinesischen Pampa liegender Felsschüttdamm. Bei Staudämmen denken ja viele an elegant geschwungene, massive Betonmauern, ein Felsschüttdamm ist das leider gar nicht, dass ist einfach nur ein Haufen größeren Drecks, um den das Wasser einen Bogen macht.
China 1994 ist nicht China heute – und schon gar nicht da auf dem Land wo ich war. Ok, die nächste Stadt war Luoyang mit etwa 6 Millionen Einwohnern – aber ehrlich gesagt hatte Mönchengladbach in jeglicher Hinsicht mehr zu bieten. Es gab wenig zu kaufen und wenn dann war es Schrott wie die billigen Fernseherkopien von „Tony“ oder „International Panasonic“, die Taschentücher von „Tempi“ oder, das war noch am besten, das Parfüm von „Oil of Olaf“. Ich kaufte mir das teuerste Rad in der Stadt irgendsoein taiwanesisches oder chinesisches MTB mit einer Suntour Schaltung. Direkt bei meiner ersten Fahrt hatte ich das Pedal aus der Kurbel rausgetreten – das war echt schlimmer Schrott. Im Workshop auf der Baustelle wurde das noch mal geschweißt, aber es half nichts, das Teil war nach einem Tag hinüber. Ich hätte mir besser doch so ein stabiles Kommunistenrad wie „Ostwind“ oder „Weiße Taube“ holen sollen.
Alles in allem war ich froh da weg zu kommen und noch froher dann in Malaysia arbeiten zu können wo auch unser Sohn Henri geboren wurde. Ich käme nie auf die Idee in Malaysia oder Kuala Lumpur Urlaub zu machen, aber dort kann man richtig gut leben. Radfahren geht da natürlich gar nicht, denn erstens ist es dort sehr hügelig und zweitens durchgehend schweineheiß. Das Wetter war an sich jeden Tag gleich, heiß und sonnig am morgen, noch heißer und schwüler mittags, dann wieder sonnig, schwül und heiß gefolgt von Gewitter und massig Regen am Spätnachmittag.
Zurück in Düsseldorf wollte Hochtief mich dann in den Libanon schicken für die nächste Jahre. Das wollte ich nicht, also suchte ich mir einen Job in Japan und kündigte bei Hochtief.
Ich hatte mal wieder Glück: Schindler Aufzüge hatten eine schlecht gehende Tochterfirma in der japanischen Provinz und suchten jemanden, der den Laden auf Vordermann brachte. Warum sie da auf mich kamen ist mir auch heute noch ein Rätsel, aber nach meinen Erfahrungen beim japanischen Außenministerium, dem DAAD und nun Schindler hatte die Sache System. Ich nahm den Job dankbar an und im April 1998 flog ich mit Swissair nach Japan um meinen Einsatz in Fukuroi, in der Präfektur Shizuoka anzutreten. Dort begann dann mein Liebesdreieck mit Japan und dem Rad.
Ich kann jetzt nicht schreiben, dass das die glücklichste Zeit meines Lebens war, aber es war erstens besser als China, zweitens besser als Aachen und drittens besser als Mönchengladbach.
Ich hatte immer noch mein Panasonic Stahlrad und fuhr damit an den Wochenenden einmal um ein großes Binnenmeer, den Hamanakako in der Nähe von Hamamatsu wo wir wohnten. Hamamatsu ist, für japanische Verhältnisse eine mittelgroße Stadt mit 800.000 Einwohnern und bekannt für drei Dinge: Salzwasseraale – die werden gegessen, Unagi Pai,eine Süssigkeit aus Saltwasseraal und die tatsächlöich auch gegessen wird und Yamaha – die bauen Pianos und Motorräder in einer Fabrik mitten in der Stadt. Wie es überhaupt um Hamamatsu herum sehr viele Fabriken gibt die Motorräder, Waschmaschinen und andere nützliche Dinge produzieren und daher viele Arbeiter brauchen. Die japanische Bevölkerung veraltet sehr flott und dem Thema „Gastarbeiter“ steht man in Japan eher skeptisch gegenüber. Aber wenn eine japanische Familie in den Zeiten der Depression zwischen den Weltkriegen nach Brasilien auswanderte, dann können deren Nachfahren ohne größere Probleme nach Japan kommen um dort zu arbeiten. In Hamamatsu, mit seinen vielen Fertigungsbetrieben hat sich daher eine große brasilianische Gemeinde gebildet, deren Mitglieder mehr oder weniger japanisch aussehen, Jose Tanaka, Pablo Kuraoka oder Alfredo Ohmachi heißen und prima portugiesisch sprechen. Und so wurde auch ich in Hamamatsu immer wieder für einen Brasilianer gehalten. Das ist leider eher negativ. Wird man als Amerikaner eingeschätzt, oder noch besser als Deutscher dann sind die meisten Menschen erst einmal freundlich und nach dem dritten Bier heißt es dann: „Das nächste Mal wieder zusammen, aber dann ohne die Italiener.“ Als Brasilianer kommt man noch nicht einmal zum ersten Bier. Ich musste z.B. meinen deutschen Führerschein auf einen japanischen umschreiben lassen, das ist ein rein bürokratischer Akt für Deutsche; Brasilianer müssen eine extra Fahrprüfung ablegen. Im Rathaus wurde ich dazu in einen extra Raum gebeten, um die Fahrerlaubnis zu erhalten, damit „meine brasilianischen Freunde das nicht sehen“, denen ich auch auf keinen Fall sagen sollte, dass ich den Führerschein so bekommen habe. Was ja nur möglich ist, weil „Japan und Deutschland Länder auf etwa dem gleichen Level sind“.
Unter diesen Umständen ist es natürlich eher schwierig Freunde zu finden. Und so fuhr ich meistens auch auf dem Rad alleine durch die Gegend. Langsam wagte ich mich Richtung Norden, weg von der Küste in die Berge. Ich war ein echt mieser Bergfahrer, aber ich liebte es über die einsamen Straßen durch die Wälder zu fahren. Wir hatten eine deutsche Hippiefreundin, die mit einem Japaner und ihren beiden Kindern in einem Bauernhof abgelegen in den Bergen lebte und die wir oft besuchten. Die Straße dort hoch war so steil, dass ich sie mit meiner Heldenkurbel nicht hochfahren konnte. Runter mit Felgenbremsen ging auch nicht wirklich.
Tja, alles hätte so schön sein können, aber ich musste ja unbedingt Karriere machen und im Jahr 2000 wurde ich in das Hauptbüro von Schindler nach Tokyo versetzt. Wie gesagt, ich liebe Tokyo mit all seinen großen und kleinen Straßen und obskuren Besonderheiten. Aber es ist auch verdammt groß und alles dauert. In Hamamatsu konnte man sehr wenig machen, aber das was man machen konnte war sehr einfach. Raus an den Sandstrand? 10 Minuten mit dem Auto. Mit dem Kind in den Park? Kein Problem, direkt um die Ecke, Radfahren: Nach 30 Minuten schon in den Bergen. Tokyo hingegen hat so viel mehr tolle Orte, so gute Restaurants und im Westen so tolle Straßen durch die Berge. Aber um dorthin zu kommen musste ich eine Stunden mit der S-Bahn fahren, drei Mal umsteigen und in der schwitzenden Masse ausharren. Tokyo kostet so viel Energie und Zeit.
Von unserer Wohnung aus war ich aber mit dem Rad schnell am Tamagawa. Das ist eine der drei großen Flüsse der durch Tokyo fließt. Der Tamagawa entspringt westlich von Tokyo in den Bergen und man kann mehr oder minder an beiden Ufern überwiegend auf Fahrradwegen etwa 80 km weit bis zu einem Stausee, dem, Okutamako fahren. Das probierte ich in der ersten Zeit sehr oft, weil es die einfachste Art und Weise war aus der Stadt herauszukommen. Fahrradweg klingt jetzt erst mal gut, aber ALLE Japaner versuchen IMMER aus Tokyo heraus zu kommen, und deswegen ist es da extrem voll. Da wird gepicknickt, Baseball gespielt, gesoffen – und du versuchst Dich da mit dem Rad irgendwie durchzumoggeln. Wenn man Bremen kennt, könnte man sagen, dass ist etwa so wie 80 km Osterdeich bei einem Werder Heimspiel. Langsam kämpfte ich mich in die Berge vor und war mächtig stolz, als ich dann irgendwann einmal den Stausee erreichte. Ich fühlte mich wie Eddy Merckx und dann lernte ich auch die ersten anderen Radfahrer kennen, allen voran Juliane.
Juliane war im gleichen DAAD Stipendium wie ich gewesen, allerdings ein paar Jahre später und dann auch gleich in Tokyo geblieben. Sie kommt noch aus der DDR, war dort eine gute 400m Läuferin gewesen; ihr Vater was Kommandant eine Panzerfahrschule der NVA und Juliane hatte auch manchmal so etwas in ihr, aber wenn ich ihre langen schlanken Beine sah, dann war ich hin und weg und dachte an Mensch gewordene Gazellen. Also diese schnellen, grazilen Tiere, nicht diese langsamen, unförmigen Kisten aus Holland. Julianes Beine waren so schön, dass ich einmal, leicht betrunken, auf die Idee kam mir die Beine zu rasieren in der unsinnigen Hoffnung, dass sie dann so aussehen würden wie die Beine von Juliane. Leider war das aber so gar nicht der Fall, ich habe halt so dicke weiße Stempel wie unter den Konferenztischen von Putin und anschließend ein paar Schnittwunden.

Juliane hatte sich einer japanischen Trainingsgruppe angeschlossen den „Tamagawa Cyclists“ und ich durfte dann auch mal mitfahren. Im Gegensatz zu deutschen Radgruppen wo quasi alles erlaubt ist und es regelmäßig zu Stürzen und Wortgefechten kommt, die dann anschließend mit Genuss in diversen sozialen Medien weitergeführt werden, herrscht in einer japanischen Radsportgruppe eine strenge Hierarchie und noch strengere Regeln – nichts davon war mir im mindesten bekannt. So ist es zum Beispiel grob unhöflich den Chef zu überholen. Auch wenn der Chef der ist, der am längsten dabei, deshalb auch am ältesten ist und am langsamsten fährt. Es geht nicht, der Chef fährt voran und gibt die Richtung vor, etwas was radfahrende Punkrocker und NVA Gazellen nur sehr schwierig akzeptieren können.
Wir trafen uns an den Wochenende morgens an einer Bretterbude am Tamagawa die eine richtig gute Kneipe war und machten uns am Fluss lang auf den Weg in die Berge – immer schön hinter dem Chef her. Die Jungs – Frauen waren da natürlich sonst nicht dabei – kannten sich gut aus und zeigten uns die besten Straßen aus Tokyo raus. Und wir fuhren mit ihnen zu den Jedermannrennen. Mein erstes Rennen war bei einem 8 Stunden Staffelrennen auf einem Autorennkurs in Tsukuba – man war das aufregend. Aber, leider kommt einem dann irgendwo die eigene Kultur in die Quere. An einem Tag waren wir unterwegs in die Berge, wo wir in einer kleinen Pension an einer heißen Quelle übernachten wollten. Juliane hatte einen Platten und ich half ihr den Schlauch zu wechseln. Wir hielten kurz an einem Supermarkt, um uns zu verpflegen, schmissen den kaputten Schlauch weg und machten uns daran die anderen wieder einzuholen. Es war ein wunderschöner Tag und nachdem wir angekommen waren saßen wir in den heißen Quellen und schauten in die leicht Nebel verhangenen Berge und auf die Straße die wir hochgefahren waren. Wir grillten und prosteten uns mit Bier zu – es war der perfekte Abschluss für den perfekten Tag. Also, ich will hier nicht ungelenk dramaturgisch weiter Spannung aufbauen, ist ja schon klar, das jetzt irgendetwas schreckliches kommt. Aber wie schrecklich, das konnten Juliane und ich nicht ahnen.
Es fing an mit einer einfachen Frage:
„Sag mal Juliane, wo ist denn der kaputte Schlauch, den Du gewechselt hast?“
„Ach, den habe ich am Supermarkt weggeschmissen.“
Schlagartig veränderte sich die Atmosphäre komplett. Es war, als wenn Schneewittchen mit den sieben Zwergen speist und guter Dinge ist, sich aber plötzlich herausstellt, dass die sieben Zwerge aus Nordkorea kommen und Maschinenpistolen unter ihren Mützen versteckt hatten.
„Bist Du verrückt? Der Schlauch, der dich so viele Kilometer gefahren hat? Der Schlauch, der dich immer loyal getragen hat, dich nie im Stich ließ und klaglos alle Stöße dämpfte? Den hast Du einfach so WEGGESCHMISSEN ????“
Wir waren beide etwas geschockt von der Wucht der Konversation und kamen gar nicht mehr zu Wort, da nun aus allen Richtungen in erregtem japanisch auf uns eingeredet wurde. Vieles haben wir in dem Moment auch nicht verstanden, aber die generelle Botschaft war schon klar: Ihr Barbaren!
Falls es jemand interessiert, was wir hätten tun müssen wäre: Den Schlauch mit nach Hause nehmen, im eigenen Garten vergraben, die Hände falten und ein kleines Dankesgebet aussprechen: „Danke kleiner Schlauch, dass Du mich so lange getragen hast, dass Du usw.“
Was wir getan haben war dann nicht mehr mit den Jungs zu fahren.
Ehrlich gesagt war das aber auch nicht so tragisch, denn in der Zwischenzeit hatten wir eine Reihe von sehr netten und lustigen Menschen kennengelernt mit denen das Radfahren sehr viel Spaß machte. Und die hießen: David, david, Tom, Ludwig, Steven, Jerome, Laurent, Dominic, Graham und Marek. Fällt da was auf? – richtig da ist kein japanischer Name dabei. Meine Freunde waren alles westliche Ausländer, so wie ich.
Wenn ich heute zurückschaue, dann hatte ich es geschafft in 14 Jahren mit genau vier Japanern eine vertrauensvolle Freundschaft aufzubauen: Ishiyama war mein Chef im Praktikum des Stipendiums. Nagashima war ein Kollege bei Schindler der lange im Ausland war. Frau Komatsu war eine Mitarbeiterin von mir und „Zeke“ Morikawa kannte ich noch aus meiner Studienzeit in Aachen. Ich finde, dass ist keine gute Bilanz, vier Freundschaften in 14 Jahren, aber nicht unbedingt untypisch für Ausländer in Japan, auch wenn sie so wie ich gut japanisch sprechen, mit einer Japanerin verheiratet sind und im großen und ganzen willig sich kulturell einzufügen. Es ist einfach so, dass es so viel einfacher ist Freundschaften mit anderen Westlern einzugehen und ich habe in Japan ein paar wirklich tolle Menschen kennengelernt, wie fast alle mit denen ich gemeinsam Rad gefahren bin.
Mein Eindruck ist, dass das Konzept von Freundschaft in Japan auch generell ein anderes ist. In Deutschland suchen wir uns Freunde, die uns sympathisch sind, ganz egal aus welcher sozialen Klasse, wo sie arbeiten, ob Mann oder Frau, oder was sie sonst so machen. Deutschland ist kein Ponyhof, aber im großen und ganzen machen wir in Punkto Freundschaft unser Ding und es gibt wenige Regeln. In Japan werden Freundschaften in der Schule, in der Uni und im Job geknüpft. Mann geht nicht in die Kneipe, spricht jemanden an und wird beste Freunde. Die Basis für eine Freundschaft ist in der Regel der gleiche Hintergrund. Deshalb gibt es dann auch nach der Heirat wenig gemeinsame Freunde – der Mann hat seine, die Frau hat ihre und man geht nicht zusammen raus. Ehrlich gesagt finde ich das ja auch gar nicht so schlecht, wenn ich an die ganzen Freundinnen meiner Frau aus der Eiskunstlaufabteilung von 1860 Bremen, und wenn meine Frau an meine Freunde aus dem Radsportbereich denke. Campagnolo und Kufenschleifen passen nicht wirklich zusammen.
Ich bin mir nicht sicher, wie das unter Japanern ist, aber zwischen meinen japanischen Freunden und mir gab es wenig, oder eigentlich keine Gespräche aus dem Bereich „Psyschohygiene“. Will sagen, ab und an brauche ich mal Menschen denen ich sagen kann wie doof meine Frau gerade ist, wie undankbar die Kinder, dass ich Symptome von Lungenkrebs glaube zu haben, dass ich nicht mehr so schnell Rad fahre wie früher und mich das an den nahenden Tod denken lässt usw.. Und meine Freunde erzählen mir dann von ihren Prostatabeschwerden, der Frau die sie verlassen hat, dass es im Bett nicht gut läuft und von den undankbaren und doofen Kinder. Das letzte Thema läuft an sich immer gut. Nachdem wir uns dann gegenseitig ausgeheult und gut getrunken haben geht es uns dann besser und wir gehen zurück zu unseren Frauen und Kindern. Ich finde, dass ist ein elementarer Teil von Freundschaft. Menschen mit denen ich so etwas nicht habe würd ich nicht als Freunde bezeichnen – na ja, vielleicht eher nicht als gute Freunde. All dies, würde ich jetzt mal behaupten, gibt es nicht so ausgeprägt in Japan und das macht den Aufbau einer Freundschaft so schwierig. Am Anfang läuft es gut an, alles ist nett, entwickelt sich prächtig; aber schon bald kommt man an einen Punkt wo es nicht mehr weitergeht. Wir erwarten jetzt gute Gespräche, aber die kommen nicht und wenn wir sie anfangen dann enden diese im nirgendwo.
Und dann nachdem es gerade so frustrierend mit den Japanern in Japan ist lernt man ein paar nette Ausländer kennen und wupp – es funktioniert wieder.
Mein Job war anstrengend und auch die Familie forderte Zeit und Energie, aber in den nächsten Jahren fuhren wir an fast jedem Wochenende gemeinsam mit anderen Bekannten raus und erkundigten in immer weiteren Radien die Gegend um Tokyo herum. Radsportler denken bei tollen Straßen vielleicht an den Stelvio, Sa Calobra oder den Mont Ventoux – ich denke an die vielen kleinen abgeschrankten asphaltierten Forstwege in den Bergen nördlich von Tokyo.
Landflucht und demographischer Wandel haben auf dem Land einiges angerichtet.
Es ist daher eine japanische Besonderheit, dass die Größe der Wahlkreise schon lange nicht mehr im Verhältnis zu ihren Bevölkerungszahlen stehen. Die Landbevölkerung ist daher viel stärker im Parlament vertreten, als es proportional gerecht wäre und der Abgeordnete eines jeden Landkreises versucht so viel wie möglich an Geld für Projekte in seinen Wahlkreis zu bekommen. Und so ist das Straßennetz auf dem Land erstaunlich gut ausgebaut, es werden immer wieder neue Tunnel und Brücken gebaut um Orte miteinander zu verbinden die nur noch auf dem Papier existieren. Das ist volkswirtschaftlich schlecht für Japan, aber großartig für Radfahrer. Um das Holz aus den Bergen zu bekommen gibt es einsame Forstwege, die für den öffentlichen Verkehr gesperrt sind und teilweise mit Brücken und Tunnel ausgebaut wurden so dass man lange Strecken ganz ohne Autolärm oder Kontakt zu anderen Menschen zurücklegen kann. Ab und zu begegnen einem Wildschweine, Rehe oder Affen und wenn man Pech hat ein Bär, aber ansonsten lässt sich dort sehr schön fahren. Ich würde mal sagen, von allen Straßen die ich mit meinen Rädern gefahren bin sind dies die schönsten. Ist natürlich eher doof, das die dann gleich so weit weg von Deutschland bzw. Bremen sind.
Oder wir fuhren in den Süden Richtung Izu Halbinsel wo uns am Ende ein traumhafter Strand in der Nähe von Shimoda erwartete. Es gibt da einfach so viele Möglichkeiten etwas zu unternehmen und so viele Dinge zu sehen, dass es wie in einem Traun ist, dessen Inhalte man sich auswählen kann und trotzdem immer wieder überrascht morgens aufwacht.
Ab und an nahmen wir auch an Rennen teil. Der JCRC organsierte jedes Jahr eine Rennserie mit 10 bis 15 Rennen von denen viele in der Nähe von Tokyo durchgeführt wurden. Eines der schönsten Rennen, vor allem weil es quasi flach war, war das Rennen um den Saiko See in der Nähe des Fujis. Wir fuhren dort die Einzelrennen von 20 km Länge und ein paar Mal versuchten wir uns auch im Viererteam über 10 km was aber im absoluten Chaos endete. Natürlich gewannen wir nie etwas, wir waren wie die Fischer von San José:
„Die Fischer von San José / schifften Tag und Nacht in die offene See / doch Fische, die fingen sie nie.“
Wir hatten eine Menge Spaß, kamen ganz schön herum und lernten eine Menge netter Menschen kennen, die aus oben beschriebenen Gründen nicht unsere Freunde wurden.
Ich war zwischenzeitlich weg von Schindler’s Liften zu einem amerikanischen Konzern in Japan gewechselt und deren Japanchef geworden. Mir wird leider schnell langweilig und daher ist meine Jobhalbwertszeit ziemlich genau fünf Jahre. Danach brauche ich etwas neues, und dass hängt mit zwei Schwächen zusammen: Der Unfähigkeit sich auszumalen, dass etwas kompliziert sein könnte und der Umgang mit Kollegen wenn es dann doch so ist. Aber im einzelnen.
Wenn ich gefragt werde eine neue Arbeit oder Aufgabe anzufangen, wie z.B. einen Staudamm in China zu bauen dann denke ich mir aus, wie das in groben Zügen gehen könnte und rufe meine Frau an und sage: „Ich bin dann mal für zwei Wochen weg.“ Leider ist das dann alles sehr kompliziert und viele Menschen sind auch nicht so begeistert und wollen mitmachen. Klar 180.000 Menschen zu überzeugen, dass ihr Wohnzimmer zum Aquarium wird wegen dem Stausee – und zwar für immer, das erzeugt Reibung. Aber ich bin immer begeistert dabei. Über die Alpen in sieben Tagen, 1.000 km und 20.000 Höhenmeter mit Übernachtung in der Turnhalle? Hey, meld‘ mich an. Eine konkurse Firma aus dem Sumpf ziehen? Klar, warum nicht? Aus China kam ich zwei Jahre später wieder und da dauerte es immer noch 4 Jahre bis der Damm fertig war, aber irgendwie kommt ja immer etwas vernünftiges raus wenn man sich Mühe gibt und keine Ahnung hat. Nur, beim zweiten Male, jetzt wo ich weiß wie aufreibend das ist, da bin deutlich weniger motiviert, weil ich jetzt Ahnung habe. Und da ich es beim ersten mal in meinem ungestümen Vorwärtsdrang leider mit allen Kollegen versaut habe, macht es noch weniger Spaß und ist noch schwieriger. Also brauche ich einen neuen Job, was nicht ja nicht so kompliziert sein kann.
Die Amis bezahlten extrem gut, aber leider hatte mich niemand darauf vorbereitet, dass die Amerikaner anders sind als wir. Also, als ich nach Japan geschickt wurde, da wurde mir von allen Seiten geraten ich solle aufpassen, nicht voreilig urteilen und ich würde sicherlich den einen oder anderen Kulturschock bekommen. Aber bei Amerikanern? Die sehen doch genauso aus wie wir! OK, also Amis tragen diese komischen Khakihosen und sagen unglaublich oft „Sensationell“ oder „Phantastisch“, aber hey wir Deutschen sind auch die einzigen die glauben, dass „Wie geht es Dir?“ eine Frage ist. Sensationell. Phantastisch. Und Dir?
Wie die Japaner, haben aber auch die Amis so ihre Eigenarten, wie übrigens auch die Deutschen, Jordanier oder Sudanesen. Das jede Kultur ihre Eigenarten hat ist das, was jede Kultur gemeinsam hat. Bei Amerikaner denkt man ja häufig an den Hort der Demokratie und das es lustig sein muss in Firmen wie facebook, instagram oder twitter zu arbeiten, weil das überall Kicker auf den Fluren stehen und es in der Kantine Hafermilch Latte und Superfood umsonst gibt. Dies unterscheidet sich deutlich, z.B. vom Bürgeramt Bremen Mitte auf der Stresemannstraße mit seinen ungebohnerten Vinylbodenbelägen, Bakelit Tresen und Security Gards die beides miteinander verbinden. Und es mag ja auch in Amerika Firmen geben, wo das alles prima läuft, aber meine Erfahrungen in der traditionellen Industrie sind eben anders, eher so wie ein Kindergarten in Nordkorea: Man singt zusammen hübsche Lieder und hört gut zu was der große Führer einem befiehlt. So war mir zum Beispiel nicht klar, dass die nette Suggestion „You might want to consider to…“ einfach auf Deutsch übersetzt bedeutet: „Das ist mal besser bis morgen erledigt, sonst…“ Oder mein Chef einmal behauptete etwas sei eine Firmenregelung und ich in fragte wo das denn stehen würde – in seinen Augen alles schlimmste Aufmüpfigkeiten – da antwortete er mir: „In dem Moment wo ich es ausspreche wird es zur Firmenregelung.“ Willkommen im nordkoreanischen Kindergarten: „Papi, woher wissen wir denn, dass der große Führer recht hat?“
Also mir war klar, dass ich da kündigen musste, es sei denn ich wollte das Datum meiner Kündigung nicht selber bestimmen.
Ich ging dann lustigerweise zum genauen Gegenteil, einem schwäbischen Familienunternehmen, das langweilige Produkte weltweit vertreibt und sich gemütlich Häfele ausspricht. Ich wurde dann 2006 ihr Japanchef und brachte es innerhalb kürzester Zeit fertig mich mit meinen Vorgänger und Jetzt-Chef völlig zu verkrachen worauf dann konsequenterweise und vor der Halbwertszeit von fünf Jahren im Frühjahr 2008 zum Ende des Jahres meine Kündigung folgte. OK, dann brauchte ich halt einen neuen Job, kann ja nicht so schwierig sein. Ist bis Montag erledigt. Aber natürlich war es viel komplizierter als ich gedacht hatte, denn 2008 schickte Lehmann die globale Wirtschaft die Achterbahn runter und mittlerweile war ich auch Mitte Vierzig.
Das war ein harter Schlag, denn ich hatte mein Leben lang Karriere gemacht und glaubte an ein gerechtes Prinzip von Leistung und Belohnung. Ich denke, Karriere machen ist wie eine Sonnenblume.
Zu Beginn sind wir alle in dem Stamm der aus dem Boden wächst, so wie man mit seinen Freunden zusammen in der Grundschule ist. Dann kommen alle gemeinsam in die Oberstufe, nein doch nicht alle, Albert fängt eine Ausbildung bei Philips an, Volker geht zur Polizei und Thomas verkauft Hambuger bei McD. Das sind so wie Blätter, die sich vom Stamm abschälen, zuerst noch in Richtung Sonne, aber tendentiel zeigen die Spitzen nach unten. Man schaut sich das an und lächelt, tja nicht geschafft. Man selber hat es ja eigentlich auch nicht verdient, aber alles ist gut, man ist weiter im Stamm. Meine Freunde und ich fangen an zu studieren, Achim auch, aber der macht Germanistik und fährt dann Taxi. Der erste Job kommt und ist nicht mehr Ingenieur, sondern Manager auf der Baustelle, während der Beste im Studium nie aus dem Planungsbüro herauskommt. Und so geht es weiter, rechts und links knicken die Blätter weg und man selber wächst schön mit nach oben im Stamm.
Aber Tatsache ist halt, dass es nur eine Blüte gibt und auf der ist nicht gerade viel Platz. Wir können nicht alle Winterkorns, Zetsches oder Ackermanns werden. Und irgendwann sind wir dann auch eines der Blätter und andere lächeln uns mitleidig und nachsichtig nach. Und genau an diesem Punkt meiner Karriere war ich gerade angelangt.
Nun ist es aber wichtig darüber nicht traurig zu sein. Nur weil man dem beruflichen Erfolg das ganze Leben lang hinterherhetzt heißt es ja nicht, dass der das ist was einen glücklichen gemacht hat. Und wenn der Tresor erst einmal voller Cash ist umso besser. Aber ich bin heute noch stolz, das ich nicht jammere weil ich nicht mehr Business Class fliegen darf – im Gegensatz zu meinem Sohn, der mich mit dreizehn Jahren bei dem ersten Economy Flug seines Lebens beim einsteigen nur angsterfüllt ansah und fragte: „Was, nach hinten?“ Oder dass es mir nichts ausmacht in der Jugendherberge am Dümmer See im Etagenbett mit einem Kollegen zu übernachten und auf dem Flur zu duschen.
Das doofe bei auf dem Flur duschen ist eigentlich nur, dass alle sehen, wenn man sein Rad mitnimmt.
Ich fand also nicht wirklich einen Job, was mich dann langfristig wieder nach Deutschland gebracht hat, um etwas zu tun, was ich mir als absolut unkompliziert vorgestellt hatte, nämlich eine private Hochschule zu gründen. Ich meine, ist ja nur ein Bürohaus und kein Staudamm. Natürlich hat das auch geklappt und war unendlich kompliziert und ich würde das auch nie wieder tun, aber darum geht es ja hier zum Glück ja nicht.
Aber im Frühjahr 2008 war ich in Japan, hatte meine Karriere erst einmal geparkt und brauchte ein neues Ziel. Diese neue Aufgabe war es, japanischer Meister beim JCRC zu werden, und davon handelt dieses Buch auch wenn zwischenzeitlich der Eindruck entstanden ist, dass es hier gar nicht um Radfahren geht.
Das war eine schön unkomplizierte Aufgabe, die ich mit wenig Aufwand bis Ende des Jahres erledigen könnte. Dachte ich.
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