Tanzkurs mit den Studenten gefolgt von Gedächtnistraining am Samstag? Oder Velothon in Berlin fahren. An sich eine eher rhetorische Frage, es sei denn die Nase ist zu, die Glieder schmerzen und der Kopf dröhnt.
Trotzdem, alles egal, den Velothon bin ich jedes Jahr gefahren seitdem ich 2010 zurück nach Deutschland kam, (Ausnahme 2013), und es ist eine gute Gelegenheit wieder Kathrin und Fabian zu besuchen. Natürlich ist das alles viel zu teuer für 60 km Radfahren, aber es ist auch eines der wenigen traditionellen Ereignisse in meinem Leben – auch wenn der Kilometer dann im Endeffekt fast 3 Euro kostet.
Da ich mich sehr kurzfristig entschlossen hatte komme ich in Startblock G – das ist ganz hinten und ganz spät. Man ist noch gar nicht gestartet, da kommen schon die schnellen Jungs und Mädel aus dem A Block vom Rennen zurück und drücken hinten, da sie ins Ziel wollen. Startblock G hat aber auch seine Vorteile: Man lernt quasi fast alle Teilnehmer am Velothon kennen – wenn man nur schnell genug nach vorne fährt, aber um die aus dem F, E und D Block zu überholen sollte es allemal reichen. Und das ist ja eigentlich der Sinn der Velothonteilnahme, oder? Die Strecke kann man ja auch so an jedem x-beliebigen Tag fahren, gerade der schöne Teil durch den Grunewald ist ja quasi Autofrei. Und gewinnen kann man da eh nichts, da ja seit vielen Jahren die Gruppe der Jedermänner eben aus Jedermann besteht: Hinz und Kunz, aber auch Amateure, Jugendfahrer, ex-Profis und andere Supersportler die einem schon beim Tempo in der Neutralisation abhängen könnten. Aber überholen, und zwar massenhaft und ständig – das ist das besondere am Velothon. Und aus Startblock G bekommt man da deutlich mehr für’s Geld.
Am Samstag holen wir die Startunterlagen in der City ab. Die City ist diesmal gelb-schwarz, halb Dortmund ist dort auf dem Weg in das Olympiastadium, während die Farben grün-weiß fast gar nicht zu sehen sind. Ich habe Mühe am Hinterrad von Fabian zu bleiben, die Nase läuft gelb-schwarz und es ist anstrengend zu fahren. Wir radeln dann noch ein wenig im Grunewald, damit ich mir wieder merken kann wo und wie lang die Steigungen sind.
Am Abend dann Carboloading, wobei, bei 60 km am nächsten Tag ist das ja mehr „Loading“, also Gewichtszunahme, als dass es der Ausdauer dient.
Meine Frau macht mich innerhalb eines 15 Minütigen Telefongespräches zum Sushireisexperten. Sushis rollen kann ich nicht, also beschließen wir das ganze als Sushiparty (temaki sushi) zu verkaufen und jeder ist dafür verantwortlich, was er sich mit Seegrasblättern (nori) , Reis, Fisch und Gemüse selber gedreht hat.
Meine Kollegen in meinen ersten Job in Deutschland fragten mich mal, als meine Frau mir Sushi als Mittagessen vorbereitet hatte, warum ich denn meinen Reis in Kohlepapier eingeschlagen hätte. Heute weiß keiner mehr was Kohlepapier ist, aber alle haben schon mal Sushi gegessen bei Dr. To in Neukölln.
Teilweise sind die Versuche aber auch sehr lustig. CvZ packt sich zunächst unglaublich viel auf sein Nori, um dann nach Spezialwerkzeug zur exakten Kreisrunden Rollung zu fragen. Das ist etwa so, als wenn man versucht sich einen Joint mit den Blättern eines Gummibaums zu drehen. Das Endergebnis sieht dann auch so aus wie meine erste selbstgedrehte Zigarette bei der WDR Rocknacht mit Mothers Finest 1978.
Am Sonntag Morgen wache ich auf und sehe aus dem Wintergarten heraus einen strahlend blauen Himmel. Die letzten Sorgen, dass es wieder eine Regenschlacht wie letztes Jahr wird sind verflogen. Die Nase läuft zwar immer noch und heute trage ich ein geschenkt bekommenes Ketterer Jersey und Fabian eine Positivo Espresso Hose aber irgendwie geht es los und wir machen kurz Station in der Stadt im Loft.
Am Start reihen wir uns dann ganz, ganz hinten ein, aber da wir früh da sind relativ an der Spitze des Startblock G; das ist gut, denn vor uns sind einige 120er Fahrer die sich auf 60 umgemeldet haben und nun auch von hinten starten müssen. An sich sollten die Startblöcke doch so verteilt sein, dass Teilnehmer, die etwa gleich schnell fahren in einem Block sind, mit den schnellen vorne und den nicht so schnellen hinten, damit sich das Ganze gut auf die Strecke verteilt. Ist aber nicht so. Gregor, der zum ersten Mal die 120 fährt ist in Startblock A gelandet und Tibor und Barbara, der wir noch am Abend vorher den Gepäckträger von ihrem Citybike geschraubt haben starten aus Block D. In Block G stehen die ganzen verpennten, aber sehr schnellen Nachmelde-Schlunze.
Kurze Strategiebesprechung. Die ersten beiden Male bin ich die 120er Runde mit vollen Einsatz gefahren, das lief beim ersten Mal gut, beim zweiten Mal nicht ganz so. Dann bin ich die 120er Mal auf dem Fixie gefahren und letztes Jahr die 60er im Regen mit dem Zeil heil anzukommen. Dieses Jahr beschliessen wir es ruhig angehen zu lassen und zusammen zu bleiben. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das klappen wird, der Vorsatz ist sicherlich ein guter, aber sobald mich jemand überholt, der irgendwie dicker oder unsportlicher aussieht als ich, oder MTB fährt drehe ich durch.
Nach dem Start hängen wir uns recht schnell an ein Pärchen dran, er in Cannondale giftgrün, sie mit einem riesigen Schriftzug „TIROL“ auf dem Hintern. Nach kurzer Zeit sieht es schon wie eine kleine Truppe aus, dabei sind die beiden weißen Malergesellen von MLB, der der auf dem Hintern „Hardbreaker“ stehen hat, einer mit Trek/NIsssan Jersey und zwei Mädels mit grauen Rollkragenpullis (In den Siebzigern hätte man das noch „Nicki!“ gerufen).
Die Tiroler bringen uns gut nach vorn, machen aber beim ersten Anstieg auf dem Spanndauer Damm schlapp. Die Gruppe zieht aber weiter und wir machen gutes Tempo,ohne uns aber zu verausgaben. Im Grunewald gibt es dann die einzige relevanten Ups und Downs. Ich wollte ja eigentlich nicht nach vorne, aber am Berg bin ich eindeutig schneller als der Rest und bei den Abfahrten dann auch ehrlich gesagt gerne mal etwa alleine. Im Graben liegt der erste Fahrer, später erfahren wir, dass Christine und Kongo-Bob dort erste Hilfe geleistet haben. Fabian habe ich in der Bergwelt des Grunewalds verloren. Das macht aber nichts, denn nach der Linkskurve, als es an die Avus langgeht nehme ich das Tempo wieder raus und warte auf ihn. Es tut ein wenig weh die schnellen Gruppen vorbeiziehen zu sehen, aber das ist nur ein temporärer Schmerz, etwas so, wie wenn man daran denkt wie gerade Nudelsuppe die Lieblingskrawatte runterläuft: Man weiß, es wird nicht wirklich etwas im Leben ändern, aber es tut weh – auch Jahre später noch wenn man daran denkt. Und zum Glück vergißt man diese Dinge zwischendurch.
Entlang die Avus finden Fabian und ich wieder zusammen. Zeit für eine Banane und Zeit Kathrin und Lucie am Wegesrand zuzuwinken.
Jetzt ist die Luft auch ein wenig raus. Noch 25 km bis ins Ziel, immer noch massenhaft Fahrer aus dem E Block zu überholen und richtige Herausforderungen in der Stadt gibt es nicht mehr. Die weißen Malergesellen sind weg, aber der Giftgrüne und Frau Tirol sind wieder da und auch die beiden Mädels, bei denen ich mir nicht sicher bin ob sie direkt aus dem Film „Jules et Jim“ von der Leinwand auf die Räder gesprungen sind, oder ihre Trikots bei Steve Jobs gekauft haben.
In der Gruppe gehe ich nach vorne und bei der Gelegenheit packt mich der Giftgrüne erst an und drohte mir dann Dresche an: „Ich stoß Dich einmal an, dann liegste auf der Fresse…“ In dem Moment habe ich einfach Riesenlust auf eine Prügelei. Da kann man mal sehen was der Radsport aus einem macht! Ich bin total friedlich, Zivi, Brillenträger….OK, eigentlich bin ich nicht friedlich sondern feige. Die letzte Schlägerei ist schon so lange her (ca 7 Jahre) , ich kann mich aber noch gut erinnern, wie ich in Shibuya einen japanischen Hilfs-Yakuza angerempelt hatte. Ich war mit Anna, unserem Aupair und ihrer Freundin aus Deutschland, die zu Besuch kam, unterwegs und ich hatte das noch nicht einmal richtig gemerkt. Der aber schon, kam hinter mir her gerannt und als er auf gleicher Höhe war holte er aus und schlug mir ohne Vorwarnung auf das Auge. Wir schlugen uns dann ein bisschen hin und her, aber es war ziemlich schnell klar, dass das unentschieden enden würde, bzw. vermutlich würden wir beide verlieren, wenn die Polizei erst einmal gekommen wäre. Also gingen wir wieder unserer getrennten Wege. Annas Freundin bekam dadurch einen ziemlich falschen und schlechten Eindruck vom Leben in Japan – es würde mich wundern wenn sie jemals wieder kam.
Statt mich zu prügel schwor ich mir, dass ich vor dem durch’s Ziel fahre! Selten war ich so motiviert. Kurz vor Schluss geht es noch einmal eine sehr kurze Steigung hoch, gefolgt von einer Rechtskurve. Als ich mich oben umschaue ist keiner hinter mir und das schwarze Gummiaufblastor von Canyon, das den letzten Kilometer zum Ziel anzeigt in Sicht. Ich beschleunige und mache mich alleine auf den Weg ins Ziel (so Gilbert-mässig) , stelle aber dann fest, dass das keineswegs das 1 km, sondern das drei Kilometer Tor war. Ich bin mit über 40 Sachen unterwegs, Fabian habe ich verloren, muss jetzt durchhalten, damit der Giftgrüne mich nicht überholt. Mist, so langsam geht mir die Puste aus. Aber da kommt die Siegessäule in Sicht und jetzt sind es noch so 500 bis 600 Meter. Zwei überholen mich noch, aber keiner von denen ist annähernd grün. Ziel geschafft, virtuelle Prügelei gewonnen. Weniger als eine Minute später kommt auch Fabian rein.
Langsam rollen wir zum Ende der Strecke, als ich hinter uns die Mädels in ihren grauen Nickis bemerke. Normalerweise spreche ich keine fremden Mädels an, das ist noch seltener als in eine Prügelei verwickelt zu werden: Als ich in Aachen studierte wohnte ich nahe der Einkaufszone am Hintereingang eines Woolworth Kaufhauses. Um in die Stadt zu kommen ging ich da häufig durch und dabei begegnete ich der wunderschönen Kassiererin, die in der Damenunterbekleidungsabteilung Dienst tat. Die wollte ich unbedingt einmal anquatschen und mit ihr ausgehen! Leider konnte ich mich dazu sehr lange Zeit absolut nicht durchringen. Und als ich endlich so viel Mut aufgebracht hatte es zu tun, hatte sie bereits bei Woolworth gekündigt, denn in der Damenunterbekleidungsabteilung am Hinterausgang bei Woolworth in Aachen hält es keine wunderschöne Kassiererin lange aus. Da ich aber nun mal nach langem hin und her diesen Plan gefasst hatte, sprach ich einfach ihre Nachfolgerin an, was dann zu einer einfach voraussehbaren Katastrophe führte, die ich an dieser Stelle nicht beschreiben möchte, weil sie, wie die oben beschriebenen Gefühle beim Anblick der suppenverklebten Lieblingskrawatte, schmerzhaft, wenn auch temporär ist.
Andererseits hätte ich mich ja auch gerade fast geprügelt, also nahm ich all meinen Charme zusammen und fragte, ob ich ein Foto von ihnen machten dürfte, da mir ihr existenzialisticher Look so gut gefiel. Der hätte auch zu einem Radausflug von Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre und Albert Camus gepasst. Albert will immer mit seinem Rad gegen einen Baum fahren, Simone versucht ihn davon abzuhalten. Ich durfte:
Fabian sprach dann auch mit ihnen und dabei kam heraus, dass sie ebenfalls aus Bremen kamen. Das ist sehr, sehr cool.
Wir fuhren dann nach Hause, gingen lecker vietnamesische essen, und ich legte mich noch ein wenig in den Wintergarten zum dösen.
… bevor beim traditionellen Kaffee im Garten die Berlinparty 2015 zu ihrem Ende kam. Noch mal meinen dank an Kathrin und Fabian für ein traditionelles, und immer wieder neues und gutes Wochenende in Berlin.
Nein, Mann, ich will noch nicht gehn, ich will noch ein bisschen tanzen.