Eine Zeit lang, als unser Sohn noch sehr klein, und ich mal gerade wieder ganz gemein war, erzählte ich ihm im Vertrauen, dass ab und an der Schneider bei uns vorbeikommen, und kleinen, unartigen Kindern die Finger abschneiden würde. Lustigerweise kam einige Monate später ein Aupair namens Natascha Schneider, die dann zunächst Angst und Schrecken verbreitete. Und am ersten Tag des Giro ging es hoch auf die passend benannten Schneiderwiesen.
Das Konzept des Giro Dolomiti ist ein sehr komfortables. Jede Etappe startet und endet in Bozen (mit Ausnahme der 4. Etappe, wo es den Stelvio hoch geht). Man fährt zunächst ein wenig und nicht so schnell durch die Gegend, um dann einen einzigen Anstieg im Renntempo zu erklimmen (der gelbe Teil der Grafik oben). Oben, oder kurz danach, gibt es dann ein gutes und umfangreiches Mittagessen und dann rollt man vom höchsten Punkt wieder zurück nach Bozen. Im Gegensatz zur Transalp muss man also nicht jeden Tag umziehen, Sachen packen etc., und man bekommt auch so recht viel von der Landschaft mit.
So weit so gut und zur Theorie. Am ersten Tag beim Frühstück vor Sieben sieht die ganze Sache dann aber doch wesentlich nervöser aus. Die Mädels hatten ihr Zimmer auf der lauten Straßenseite des Hotels gegen eins auf der Gartenseite getauscht (1. Zimmertausch), um besser schlafen zu können. Wenig konnten sie ahnen, dass im Garten nebenan die ganze Nacht Party war. Und so sahen sie am Frühstückstisch eher etwas dünnlippig als gewöhnlich aus.
Dann auf zum Start durch das pennende Bozen, im Hintergrund die Berge mal wieder.
Silke und Silvia hatten sich als Schweizerinnen verkleidet. Sie wurden dann während des Rennens ständig auf schwyzerdütsch angequatscht. Also, eigentlich wurden sie immer angequatscht, im Gegensatz zu David oder mir. Selbst wenn sie Bärte und Kosakenuniformen getragen hätten, wären sie wohl auf russisch angequatscht worden. David und mich hätte man noch nicht einmal angesprochen, wenn wir dafür Geld gezahlt hätten.
Am Start an der Messe hatten sich bereits die gut 500 Fahrer der Tour versammelt und dann ging es auch schon mit Eskorte raus. Das war wirklich sehr gut organisiert, der Pulk blieb zusammen und der Verkehr draußen.
In sehr gemütlichem Tempo ging es nun über Eppan nach Kaltern. Es war schon fast zu langsam, mir juckte es in den Beinen und ich wollte endlich alles geben – ein Gefühl, das ich wirklich nur auf den ersten 40 km hatte und danach nie wieder. Zwei Dinge sind mir dann aufgefallen: Erstens sind viele Männer vor dem Start so aufgeregt, dass sie ihre Morgentoilette vergessen. Das holen sie dann auf der Tour nach und ich übertreibe sicherlich nicht, wenn ich schreibe dass ich an diesem Morgen mehr als 25% der männlichem Starter am Straßenrand zwischen Apfelbäumen und Weinreben pinkeln sah. Ich hatte keine Wahl, egal wo ich hinsah Äpfel, Weintrauben und pinkelnde Männer. Und mit geschlossenen Augen radelt es sich nun einmal sehr risikoreich. Es hatte den Anschein einer gigantischen, inszenierten, konzertierten Nitratdüngungsaktion. Ohne den Giro würden in Südtirol vermutlich gar keine Pflanzen wachsen die Früchte tragen! Besonders lustig wird das ganze, wenn man Radler sieht die Trikots von BASF tragen und düngen.
Oder ist das eine ganz geschickte Taktik um vor dem Rennen wirklich jedes unnötige Gramm Gewicht zu verlieren? Vielleicht sassen da ja noch andere Radler weiter hinten in den Apfelbaumplantagen und machten sich gerade einen Einlauf, um das optimale Bergzeitfahrgewicht zu erreichen.
Zweitens erkennt man die Mitradler in der Regel an der Kombination von Trikot und Rad. Oh, da ist wieder dieser „Eindhoven Penguin“ auf dem Pinarello. Oh, da ist wieder Rapunzel. Die erkannte man übrigens immer, aber weder an Rad nach an Trikot, sondern an ihren superlangen blonden Extensions deren Spitzen in den Trikottaschen verstaut waren. Haben die Leute dann am nächsten Tag ein anderes Jersey an, weiß man wieder mal nicht wer die sind. Und in der Stadt in Freizeitklamotten würde man keinen einzigen erkennen – mit Ausnahme von Rapunzel. Doch dazu später.
Wir fuhren über Auer nach Leifers und waren quasi wieder zurück am Hotel, als wenige Kilometer später eine Strasse nach rechts abzweigte, mitten auf eine Felswand zu. Dahinter gab es ein aufblasbares Tor mit Zeitmessung und das Rennen würde hier beginnen. 10,7 Kilometer lang, 1.087 Höhenmeter, also durchschnittlich mehr als 10% Steigung.
Ich drehte noch eine kurze Schleife, da ich auf dem 20% Anstieg der zum Start führte nicht in das kleine Kettenblatt vorne schalten konnte und machte mich dann im Rennmodus auf den Weg nach oben zum Ziel, hinter dem die legendären Schneiderwiesen liegen sollten. Die ganze Strecke nach oben war komplett frei von Verkehr und führte bei guten, aber heißem Wetter überwiegend durch schattiges Waldgebiet. Ich war relativ weit hinten im Feld gestartet, denn das gibt mir die Möglichkeit früher gestartete Fahrer zu überholen und möglichst wenig selber überholt zu werden. Ganz ehrlich – überholen ist das einzige was in meinem Alter, in dem man keinen Blumentopf mehr gewinnen kann, bei Rennen Spaß macht. Auf dieser ersten Etappe lernte ich dann die Fahrer kennen, die ich dann in den folgenden fünf Renntagen immer weider überholen würde, bzw. von denen ich immer wieder überholt werden würde. Da war so eine ledrige Frau mit kurzen Haaren die etwa auf demselben Niveau wie ich fuhr. Oder die Mannschaft vom RSC Erkelenz die ich fast jedes Mal komplett stehen ließ. Da die aus meiner Heimat kommen, feierte ich ab und an einzelne von denen mit einem „LOT JONN !“ an, aber das waren eher so introvertierte Machotypen, die nicht viel Spaß verstanden.
Ich war im Rennmodus und nicht gerade langsam für meine Verhältnisse, wurde aber zu Beginn deutlich öfters eingheholt, als ich selber überholte. Mist. 8.000 km Training in den Bergen um Bremen umsonst! Warum bin ich denn 20 Mal hintereinander das Hohe Zeh, die Aalschleife und den Hünenhügel hier hochgefahren, bitte ???? Silvia uns später Silke bekam ich noch. An Silvia schlich ich mich heran, hauchte ein „Na, so allein hier? Ich auch…“ in ihr Ohr und bekam zur Antwort: „Fahr‘ ruhig weiter…“ Und habe bei bescheidenem Wetter die 150km der RTF Alpe de Seevetal zurückgelegt wo mehr Höhenmeter nicht gehen? Ganz am Ende wurde ich noch von so einer deutschen Zicke eingeholt (egal) und die letzten Meter wurden im Schlußspurt zurückgelegt.
Insgesamt braucht ich 1:04:50 hr für das Stück, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von unter 10 km/h und 16,8 m/min Steiggeschwindigkeit entspricht, das ist für mich alles ganz OK. Thomas war der einzige von uns der das alles in weniger als einer Stunde schaffte und dann konsequenterweise gut frisiert oben auf uns wartete.
Oben gab es dann erst einmal zu trinken und … Apfelstrudel.
War wirklich gut und die Aussicht von dort oben war auch schön.
Ganz oben traf ich auch Rapunzel wieder.
Langsam kamen wir erste Zweifel an der Echtheit ihrer Haare und ehrlich gesagt auch ihrer Schönheit. Sie erinnerte mich mehr an mehr an die Rapunzel aus der „Gebrüder Grimm“ Verfilmung von Terry Gilliam, als an was mich sonst so normalerweise unter Rapunzel vorstellt. Meine Favoritin war, abgesehen von zwei Schweizerinnen, die mir bei der ersten Etappe auffielen und die ich dann lange nicht mehr wiedersah, eine sehr junge Italienerin, die mit ihrem ganzen Clan angereist war und wirklich schnell war.
Nach einer sehr erfrischenden Pause ging es dann von den Schneiderwiesen dieselbe Straße runter auf die Hauptstraße, die wir gekommen waren. Jetzt gab es ein wenig Verkehr hier, zudem war die Straße sehr steil und kurvig, so dass ich ganz schön stark in den Bremshebeln hing – ich mag es ja lieber wenn es wenig technisch und schnell runter geht, so wie vom Pico de Valeta in der Sierra Nevada, wo man 2.700 Höhenmeter auf 43 km Strecke und breiten Straßen prima nach unten wegrollen kann. Es gibt aber irre viele schnelle Abfahrer, die dort runterfuhren, als wenn es kein morgen mehr geben würde. Wir gehörten nicht dazu.
Noch ein kurzes Stück über abgesperrte Landstraßen und dann waren wir wieder an der Messe. Auf das essen dort verzichteten wir (kann mich nicht erinnern warum) und stattdessen fuhren David und ich mit dem Bus nach Bozen rein, um uns den Ötzi anzuschauen.

Der Ötzi. Erinnerte mich irgendwie an die Trikots der Erkelenzer.
Der Ötzi ist im Südtiroler Archäologiemuseum ausgestellt, in dem eine Etage mir zu Ehren benannt ist, wie ich erfreulicherweise feststellen durfte.
Ehrlich gesagt, war da außer Radfahren, essen und schlafen auch die einzige kulturelle Aktion, die wir auf einem Renntag zustande bekommen haben, was damit zusammenhing, dass a) das der erste Tag und wir nicht frisch waren und b) die ganze Etappe recht kurz war. In den nächsten tagen sollte es immer härter werden, aber dazu später mehr.
Ergebnistechnisch war ich zufrieden. Ich war auf Platz 307 von ca. 450 gestarteten Teilnehmern, hatte also so etwa ein Drittel hinter mir gelassen. In meinem Alter schaut man ja eher nach hinten und nicht nach vorne.