76.076 Meilen sind es nun geworden, der neue HAM’R (Highest Annual Mileage Record). Kurt Searvogel legte die letzte und 76076. Meile am 9. Januar zurück und überbot somit den „ewigen Rekord“ von Tommy Goodwin aus dem Jahr 1939/40 um mehr als 1.000 Meilen.
Bitte jetzt keine Diskussion, um es überhaupt eine gute Idee ist, umgerechnet 122.432 km in einem Jahr zu fahren, wo die meisten von uns froh sind, etwa ein Zehntel davon zu radeln. Aber die meisten von uns haben eben auch einen Beruf oder eine Bestimmung, eine Familie, eventuell Kinder und wir wollen Abends mal einen heben, Dead Snow im Kino sehen, uns beim vietnamesischen Imbiss Mekong im Viertel den Magen verderben und vor allem mindestens an jeden zweiten Sonntag im Winter bis 12 Uhr im Bett bleiben.
Aus diesem Grund sollte man Respekt vor Kurt Searvogel haben, genau wie man Respekt vor Boris Becker, Lothar Matthäus, Fransiska van Almsick, Oksana Baiul oder Giuliano Calore haben sollte. Das sind alles Profis und absolute Könner auf Ihrem Gebiet gewesen: Tennis, Fußball, Schwimmen; Eiskunstlaufen, bzw. den Stelvio ohne Lenker hochradeln und dabei vier verschiedene Musikinstrumente zu spielen. Solche Spitzenleistungen sind nur dann möglich, wenn man nicht allzu sehr darüber nachdenkt, was man eigentlich da genau macht, ein gewisses Defizit an Intelligenz bei den erstgenannten Vieren hat vermutlich geholfen, beim letzteren bin ich mir nicht sicher, so verrückt waren seine Ideen. Trotzdem, und ich schreibe das noch einmal ganz groß: RESPEKT.
Was mich irritiert sind die Diskussionen die nun starten und etwa die folgende messerscharfe Argumentation darlegen: „Heutzutage“, so hört man, „ist das ja alles ganz einfach. Windschnittige, leichte Karbonräder mit 22 Gängen, Mitfahrer die Windschatten geben, immer nach dem Wetterbericht mit dem Wind auf einer sonnigen, glatten Straße in Florida zu fahren, das ist ja nicht soooo schwierig. Aber damals, als Tommy Goodwin auf einen Stahlrad jeden Tag durch das regnerische Großbritannien ohne jede Unterstützung gefahren ist….Und der war ja auch Vegetarier und dann brach auch noch der 2. Weltkrieg aus….das war noch ein richtiger Mann!“

Cool.

Uncool. Und noch nicht mal im Weltkrieg.
Mit anderen Worten, da kann ja jetzt jeder kommen und mehr Meilen als Tommy Goodwin fahren, aber so lange er das nicht auf einem Stahlrad von 1939 und auf dem Kopfsteinpflaster zwischen Paris und Roubaix tut, sich dabei nur von Obst ernährt und unter Ausschluss der Öffentlichkeit radelt- zählt das erst mal nichts. Und besser wäre es bei der Gelegenheit auch noch, wenn Deutschland Polen den Krieg erklärt.

Vorbereitungen für neuen HAM’R Rekordversuch
Das ist natürlich völliger Unsinn. Auch wenn das jetzt sehr deutsch herüberkommt, würde ich da gerne einmal an die Regeln erinnern. Und diese besagen letzt endlich nur, dass man ohne Hilfsmittel so viele Meilen wie möglich in einem Jahr zurücklegen muss. Ich denke mal, das steht nichts von „auf flandrischen Pflasterstrecken“ oder „mit Reynolds 531 Stahlrahmen“ oder „in einem Land, das sich zumindest teilzeitweise während der Dauer der Rekordversuches in einem Weltkrieg engagiert“.
Das Aussehen von Kurt Searvogel spielt seinen Gegnern da leider in die Hände.

Uncool, daher unverdient.
In gleicher Weise hätten wir diese Diskussion auch bei dem Stundenweltrekord haben können. Dieser wurde über eine lange Zeit, je nachdem wie man das sieht, von Ondřej Sosenka (2005) bzw. Chris Boardman (1996) gehalten. Vielleicht aber auch noch sehr viel länger von Eddy Merckx seit 1972. Egal. Zum Glück wurde der Rekord von Jens Voigt 2014 gebrochen, zurecht Jedermanns Liebling und dem Großmeister plakativer Aussagen.

Cool, daher verdient den Rekord geangelt.
Danach kamen ein paar Hansel (Brändle, Dennis, Dowsett), die den Voigt’schen Rekord prompt übertrumpften und die die Geschichte gleich wieder vergessen wird, bis sich Bradley Wiggins rechtmäßig den Titel krallte. Alles lief nach Plan und alle sind zufrieden.
Im Grunde genommen ist natürlich jeder Rekord einzigartig. Bob Beamon 1968 in Mexiko, 8,90 Meter? Einzigartig. Weserrunde 2014? Einzigartig. Eine Stunden rumhüpfen am Boday-Attack Kurs am 16. Dezember 2015? Einzigartig. Oder wie Dominik G einmal als Kompliment zu meiner Frau nach dem Abendessen in unserer Hütte in China sagte: „Das war wirklich das leckerste Essen, das ich heute gegessen habe. In China.“
Letztendlich sind 76.076 Meilen nur eine Zahl. Wäre eine Meile nicht 1.609, sondern 2.448 Meter lang, wäre er ja auch nur 50.000 Meilen gefahren. Und das klingt wiederum irgendwie schaffbar. Aber nicht heute, bei dem Schnee da draußen in Bremen.