Bereits beim Aufstehen sorgte das Geräusch von Regen für schlechte Laune und der Himmel hatte in etwa die Farbe von #919191. Wenig später in der Neustadt, wo langsam die Samstagabend Parties ausliefen, war es zumindest #787878. Egal, für den Großraum Leer sollte es recht gut aussehen und so machten sich Silke, Andi und ich auf den Weg.
Wir fuhren zur Fehn-Routen RTF in Leer; für mich war es das erste Mal. Olli meinte, dass diese eine sehr schnell RTF sei. Und da ich eher selten in Ostfriesland bin, mal eine neue RTF fahren wollte und neugierige auf ostfriesische Feen war, dachte ich OK, da musste mal hin. Als wir ankamen sah es so aus und es fing relativ schnell an zu nieseln. Ich denke, dass ist da normal, kein Mensch würde das dort als Regen bezeichnen.

Über Leer sah das ganze schon viel besser aus.
Ich war überrascht wie viele Bremer den Weg nach Leer gefunden hatten, ich hatte das in den sieben Jahren in Bremen noch nie geschafft. Ein Student bei mir hatte bei seiner eidesstattlichen Erklärung der Bachelorarbeit mal bei Ort (und Datum) geschrieben „Leer“; das hatte ich dick rot angestrichen und daneben geschrieben, er soll das nicht leer lassen, sondern gefälligst eine Stadt oder sein Dorf angeben.
Aber das ist tatsächlich eine Stadt oder grauem Himmel. Ein paar RCBler waren da, BBCler, einige Rot-Goldene, eine Truppe mit Olli aus Stuhr und dann die üblichen Gestalten aus den Nachbardörfern, die man immer wieder trifft und von denen ich immer noch nicht weiß wie sie heißen. Denen geht es umgekehrt mit mir wohl genauso.
Wir hatten nicht viel Zeit denn pünktlich um 10 ging es los. Zusammen mit Andi machte ich mich auf an die Spitze des Feldes zu fahren. Das klappte gut und das Tempo war RTF gerecht hoch, trotz Nieselregen und vielen kleinen Feldwegen, auf denen wir fuhren.
Allerdings war das auch sehr furchteinflössend. Ich musste extrem konzentriert fahren, da das Feld recht unruhig war und immer wieder steil abgebogen wurde in neue Feldwege. Das war wie Intervalltraining: Rollen im Feld, dann bremsen, abbiegen, sprinten um die Lücken zuzufahren….in den Kurven fühlte ich mich auch nicht besonders sicher, vor allem dann, wenn das Geräusch von Split unter Reifen zu hören war. 80% meiner Energie brauchte ich, um zu treten, die restlichen 50% um meine Angst zu bekämpfen.
In diesem Zustand irgendetwas von der Schönheit der Landschaft wahrzunehmen war nicht möglich, ganz zu schweigen davon irgendwelche Feen zu sehen, die am Waldesrand standen. Zum Glück ging es nach einer Weile dann eher auf Landstraßen weiter. Das nahmen einige zum Anlass noch einmal zu beschleunigen und vorne weg zu fahren, Andi und ich blieben im Feld, auch wenn wir jetzt auf nasser Straße den Seich von den Hinterrädern unserer Vordermänner ins Gesicht bekamen.
Die Situation war so angespannt, dass ich den ersten Kontrollpunkt nach ca. 35 km verpasst. Nach weiteren 20 km und einem Feldweg voller breiter und tiefer Pfützen war es dann soweit: Ich wollte vorne eine Lücke zusprinten, schaffte dies aber nicht und dann hatte ich keine Kraft mehr im Feld zu bleiben und fiel hinten alleine raus. Vor mir fuhren Torsten, Matthias und ein Mädel mit einem POC Typen auf die ich aufschließen wollte – aber auch dafür langte die Kraft nicht und der Wind kam dazu auch noch recht fies. Also fuhr ich erst einmal alleine weiter.
Ich holte dann einen anderen Fahrer ein, der mit einem platten Hinterrad fuhr und lieh ihm eine CO2 Kartusche. Nett von mir, denn nun fuhr ich ohne weiter, aber ich kannte ja genug Fahrer die hinter mir waren und mir dann hätten helfen können. Nicht so nett finde ich dann, wenn derjenige (oranges Müssing) am Ziel nicht auf mich wartet und mir Geld für eine neue Kartusche gibt. Nicht wegen dem Geld, aber einfach um danke zu sagen, denn der wäre ja sonst entweder 50 km mit plattem Reifen unterwegs gewesen oder hätte die RTF abkürzen müssen oder einen anderen Doofen finden müssen.
Egal. Nach einer Abzweigung standen Matthias und Thorsten am Straßenrad, die waren wohl auch dem Tempo erlegen und warteten auf die nächste Gruppe. Ich sagte, komm‘ lass uns zu dritt fahren und das passte dann auch ganz gut, obwohl wir nun ziemlich lahm unterwegs waren. Aber es brachte uns zum nächsten Kontrollpunkt.
Als wir dort Pause machten am eine weitere Gruppe mit Bellinis und Andi rein. Zu zehnt oder so fuhren wir dann weiter, wobei Andi und ein gewisser grauhaariger Hermann aus Papenburg vorne im Wind fuhren und brutal Tempo machten. Hermann verschliss neben sich einen Fahrer nach dem anderen.
Als wir wieder so auf einem total verlassenen Feldweg mit 35 km/h gegen den Wind an-eierten und ich die Schönheit der ostfriesischen Landschaft bewunderte (Grauer Himmel, links grüne Wiesen mit schwarz.weiß gefleckten Kühen, recht grüne Wiesen mit schwarz.weiß gefleckten Kühen und das alle Kilometerlang) passierte es:
Ich fuhr in der Gruppe in zweiter Position hinter Hermann und hörte nur noch das Krachen hinter mir. Als ich mich umdrehte und zurückfuhr lag Matthias in Seitenlage mitten auf der Straße und ein anderer Fahrer sass im Gras daneben. Thorsten war etwa auf gleicher Höhe und meinte, dass es Matthias den Lenker bei einer Bodenwelle aus der Hand geschlagen hatte und der daraufhin gefallen wäre. Dabei riss er seinen Nebenmann um und Thorsten, der hinter ihm fuhr konnte gerade noch ausweichen und vorbeifahren.
Während der andere Fahrer da im Gras sass und sein Schicksal und demoliertes Rad bedauerte, sah es für Matthias gar nicht gut aus. Er lag regungslos auf der Straße, unter seinem Helm eine große Blutlache. Schwer abzuschätzen, woher die nun genau kam. So langsam kam er wieder zu sich und wir drehten ihn auf den Rücken. Dann zogen wir ihm erst einmal den Helm aus und die Handschuhe. Ja, soll man ja an sich nicht machen, aber das das ganze Ding voll mit Blut war, ich machte mir auch ein wenig Sorgen was wohl darunter zu finden wäre. Ich sag mal, zum Glück war da nichts am Schädel, sondern die gesamte rechte Gesichtshälfte hatte ein paar Wunden und das rechte Auge war gut zugeschwollen. Von dem Fall war die Brille kaputt gegangen und hatte sich ins Gesicht gebohrt. Ehrlich gesagt beruhigte mich das ein wenig.
In der Zwischenzeit hatte Hermann Notarzt und Krankenwagen gerufen. Hermann wusste sogar den Namen von dem Feldweg wo wir waren, ich hatte so überhaupt keine Ahnung. Das beste was ich dem Notarzt hätte sagen können wäre gewesen „Fahren Sie zum Start der RTF und dann immer den Pfeilen der 117 km Strecke lang, nach 60 km oder so finden sie uns dann!“ Das hätte aber verdammt lang gedauert.
Matthias fragte bestimmt drei Mal, ob er gestürzt sei? Und wo es ihm überall weh tut. Er war ganz klar unter Schock und desorientiert, vermutlich von einer Gehirnerschütterung. Ich fragte Andi nach seiner Regenjacke und zusammen mit meiner deckten wir ihn erst einmal etwa zu, denn so richtig warm war es ja auch nicht.
Krankenwagen und Notarzt waren sehr schnell da, das dauerte keine zehn Minuten. Das waren Profis, die kannten ihr Geschäft. Sie fragten Matthias was heute für ein Tag wäre: „Sonntag“. Das war schon mal gut. Und welches Jahr? Keine Antwort. Und welche Jahreszeit? „Frühjahr!“ Klar, von der Stimmung her schon, aber in Ostfriesland nennt man das Sommer. Ein erster Check ergab jetzt nichts gebrochenes oder so, also wurde Matthias auf die Bahre verfrachtet, in den Krankenwagen gebracht und dann in ein Krankenhaus in Leer gefahren. Linda vom RSV Leer kam und packte sein Rad ein. Das sah übrigens deutlich besser als Matthias aus.
So schlimm das alles aussah, ich fand dass Matthias da noch sehr viel Glück gehabt hatte. Klar, das halbe Gesicht war im Eimer und Knie und Hände waren, aber sonst funktionierte ja erst einmal alles. Bis auf den Schädel, aber das würde sich schon wieder geben.
Entsprechend gedrückt war die Stimmung.
In so einem Moment überlegt sich natürlich jeder erst einmal, dass es einen auch selber hätte treffen können. Und wie scheiße das ist, bis das alles wieder verheilt ist und man wieder vernünftig Sport machen kann. Und was die Frau und die Kinder dazu sagen werden und wie sie dann in der Tür stehen und zittern, wenn man selber mit dem Rad wegfährt. Das ist etwas egoistisch, weil einen selber hat es ja nun einmal nicht erwischt und man sollte daran denken, wie scheisse das für den anderen ist. Aber das ist dann nur der zweite Gedanke.
Als wir dann weiterfuhren, stand als allen die Angst im Gesicht geschrieben. Bei jeder Unebenheit auf der Strasse wurde geschrieen „Bodenwelle!“ oder „Schienen“ oder „Schotter!“, auf einmal erschien die ostfriesische Umwelt so Angsteinflössend und aggressiv.

Angst.
Mich erinnerte das an Führerscheinverlängerung in Japan. Alle fünf Jahre oder so muss man in Japan zur Verkehrserziehung wenn man seinen Führerschein verlängern lassen will. Insgesamt ist das relativ langweilig, aber auch irgendwie bizarr und interessant. Teil des Programms ist es sich einen Verkehrspädagogischen Film anzusehen, meiner hiess: „Mörder ohne Absicht„.
Die Geschichte ist etwa so, dass ein Mann mit seinen Betriebskollegen in einer Kneipe feiert und schon was getrunken hat. Dann ruft sein Chef an und bittet ihn eine Klimaanlage bei einem Kunden zu reparieren. Er will natürlich nicht, aber da er ja ein guter japanischer Arbeitnehmer ist lässt er sich doch bequatschen und fährt los.
Schnitt. Ein kleines Mädchen mit Großmutter, beide im Kimono laufen fröhlich vergnügt auf dem Rückweg vom Jahrmarkt an einer Straße lang. Ist schon klar was jetzt passiert, die Details spar ich mir, aber im Film wird einem da absolut nichts erspart: Kind tot, Oma im Krankenhaus.
Jetzt beginnt das Drama aber erst richtig. Der Mann verliert seinen Job und als er zu der Familie des Kindes geht, um sich zu entschuldigen wird er nur angeschrien „Geben sie uns unser Kind zurück!“ Dann muss er ins Gefängnis. Seine Familie muss ihr schönes, westliches Haus verkaufen und wohnt dann in einer fiesen, alten japanischen Hütte direkt an der Bahnstrecke. Die Mutter hat einen harten und schlecht bezahlten Job auf einer Baustelle, der Sohn nimmt Drogen, die Tochter geht nicht mehr zur Schule und ist zickig. Eines Tages sagt die Mutter nur: „Ich bin so müde!“ und man sieht wie Sie auf die Bahnschranke zu geht; quietschende Zugbremsen, dann wieder jede Menge Details.
In der letzten Szene des Filmes sieht man dann wie der Mann, aus dem Gefängnis entlassen, im Regen auf den Stufen vor dem Eingang des Hauses des Kindes sitzt, an die Tür trommelt und schreit: „Verzeiht mir! Verzeiht mir!“ Die Kamera schwenkt dann weg von ihm zu einer Straße mit viel Autoverkehr. Die unausgesprochene Botschaft zum Schluss ist: „Siehst Du, da fährst Du gerade in Deinem Auto, aber schon morgen könntest Du an diese Tür hämmern und um Verzeihung bitten.
Von den ca. anderen 30 Japanern, die mit mir den Film gesehen haben, war etwa die eine Hälfte am pennen und die andere am flennen. „Ist schon etwas übertrieben“, dachte ich mir und setzte mich dann in mein Auto um ca. 10 km nach Hause zu fahren.
Für diese 10 km habe ich wohl so 2 Stunden gebraucht. Ich war so unter Schock, ich konnte einfach nicht schnell fahren. Überall, so schien es mir, lauerten die Gefahren und wenn ich nur ein klein wenig unaufmerksam wäre, dann wäre es mit meinem Leben, dem meiner Frau und meiner Kinder zu Ende. Ich bin noch nie in meinem Leben so vorsichtig und mit so viel Angst Auto gefahren.
Allerdings war das am nächsten Tag auch schon wieder vorbei und ich raste wieder durch Tokyo.
Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch Thomas aus Aachen und seine Kollegen von der SiG kennen und wir fahren dann in einer kleinen Truppe unter Anleitung von Reiner weiter an die dritte Kontrolle und dann in Richtung Ziel.
Ich fragte Reiner: „Weisst Du wo das Borromäus Krankenhaus in Leer ist?“ Und er sagte: „Keine Ahnung, ich bin nicht aus Leer sondern aus Westerstede.“ Was ja von Leer mal definitiv weniger entfernt ist als Köln von Düsseldorf oder Hamburg von Bremen. Geistig scheinen da aber riesige Lücken zu klaffen, ich denke ich bin da in ein riesiges ostfriesisches Fettnäpfchen getreten. Dann fragte ich ihn (er war ja Mitveranstalter der RTF): „Warum heisst die RTF eigentlich Fehntour?“ „Keine Ahnung!“.
Später bekam ich dann aber raus, dass Fehn keine Feen sind, sondern Dörfer da in der Gegend wie Elisabethfehn, Idafehn oder Rhabarberfehn. Die Namen sind da sowieso ganz lustig, klingen alle wie Rip-offs aus Bremen und umzu.
Oder wie chinesische Elektronikgeräte zweifelhafter Herkunft. 1994, als ich in China auf dem Land einen sehr schicken damm bauen durfte (also ich und 30.000 Chinesen), da kaufen wir in der nächsten Stadt Fernseher, Staubsauger etc. für unsere Hütte. So hatten wir einen Fernseher, nicht von Sony, sondern von Tony. Und unser Kühlschrank war von International Panasonic (was ja deutlich besser ist als National Panasonic). Meine Frau hatte übrigens Hautcreme von „Oil of Olaf„.
Wir kamen so durch einen Ort, der hiess „Potshausen“ – das war bestimmt eine Kopie von Posthausen in der Nähe von Bremen. Bestimmt gibt es in Potshausen auch ein Dodnehof Einkaufzentrum. Und dann kam das beste: Wir kamen an eine handbetriebene Fähre und wollten dort über den Fluss setzen.
Und ich fragte Rainer, wie der Fluss da hieß. Und der wusste tatsächlich die Antwort, obwohl dieser Fluss durch Leer und nicht durch Westerende fließt. Es war die… jetzt haltet euch mal alle fest…die Jümme! Ha, ha, was ist das denn? Ist das eine schlechte Kopie der Wümme, der was?
Am Ende und nach ca. 117 km sassen wir etwas bedrückt am Ziel herum. Jörg, Thorsten und Tesla begnügten sich mit einer Cola und kleinen Häppchen, während Jessica zehn Waffeln vor sich liegen hatte, die ihr angeblich von Harald aufgedrängt worden waren.
Hm. Kein schöner Sonntag, alles in allem.
An dieser Stelle alles Gute an Matthias, der hoffentlich in der Zwischenzeit das Krankenhaus wieder verlassen durfte, damit es bleibt wie wo es hingehört: leer.
Au weia! Gute Genesung dem armen Kerl.
Bahre = nicht mehr unter den Lebenden
Trage = noch am zucken und wieder genesungsfähig – hoffentlich
Ein kleiner aber dennoch entscheidender Unterschied.
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