Da der Stelvio am 4. Tag auf dem Programm des Giro Dolomiti steht, könnte man denken, dass dies die Königsetappe ist. Aber der Stelvio ist relativ einfach: 30 km rauf, rauf rauf und dann 30 km runter, runter, runter. Die Sella Runde am 3. Tag ist sowohl in Punkto Höhenmetern, als auch Distanz weitaus länger und härter. Vor allem die Idee, die Teilnehmer zunächst einmal 100 km und 2.700 Höhenmeter radeln zu lassen, um dann das Rennen beginnen zu lassen ist schon eine besondere.

Die Grafik kommt den Rennteil nicht richtig wieder: Es ist das Stück beginnend im Tal nach ca. 100 km hoch zum Passo Sella über 9 km und 600 Höhenmeter.
Am dritten Tag kennt man den Drill. Am Abend vorher wird alles gewaschen und vorbereitet, pünktlich um 6:09 Uhr wird aufgestanden; die Tür zum Frühstückssaal wird pünktlich um 0&.30 Uhr geöffnet, ich esse wie jeden Morgen das gleiche und dann geht es ab zur Messe nach Bozen zum Start. Dort stehen wir alle gut gelaunt rum, Thomas zum letzten Mal, denn er hat nur den halben Giro gebucht und will in den nächsten Tagen noch einige andere Pässe im Alleingang fahren, unter anderem den Mortirolo.
Perfekt organisiert geht es um 7:30 Hr im Pulk los durch abgesperrten Verkehr genau wie am Tag zuvor Richtung Norden entlang der Brennerautobahn. Die Strasse kennen wir nun und ich schaue, wer so dabei ist und wen ich auf den anderen Etappen bereits gesehen habe. Rapunzel fällt, wie immer, recht schnell auf, die Hardcoremänner vom Erkelenzer RSC auch. Und dann sind da die vielen Fahrer vom RSC Niddatal, die Amis aus Miami von „Lola“, die Melody Farmers und, zu meinem Erstaunen, Massen an Skandinavienern, die man an Jerseys erkennt, weil die ganzen Namen darauf viele durchgestrichene „O“s haben, wie z.B. Osterhus. Auf einem Jersey steht: „Smagelig. Sniffgert. Snutvermot“ Oder so ähnlich und ich frage mich bis heute, was das heißen mag, es klingt aber irgendwie sehr überzeugend. Zwei gutaussehende, schnelle Typen aus Ulm, die „Ulmis“ fahren hinter Silke und Silvia her, trauen sich aber nicht sie anzusprechen. Sie haben beide Cervelos (der eine mit Shimano, der andere mit Campa), beide den gleichen Helm, überhaupt sehen so aus wie richtig gute Freundinnen. Ich fahre an ihnen vorbei, bin parallel zu Silvia und spreche sie an: „Na? So alleine hier? Ich auch!“ Silvia lacht. Tja, Jungs, so geht das.
Bei Barbian beginnt der Anstieg in die Sella Runde. Von 500 geht es rauf auf 2.250 Meter über 37 hm. Macht aber Spaß, schöne Strassen, gutes Wetter, kontrolliertes Tempo. Ich bemühe mich schon schnell zu sein, will es aber auch nicht übertreiben, denn der Tag ist lang und oben angekommen sind das eben erste die Hälfte aller Höhenmeter die gefahren werden müssen heute. Langsam wird die Landschaft atemberaubend. Am Morgen sind die Wolken noch dicht und die Berge noch nicht richtig zu sehen, aber gegen Mittag lichtet sich der Dunst und die gewaltigen Felsformationen werden in ihrem ganzen Umfang sichtbar.
Das ist nun mal wirklich ganz anders, als die Berge, die wir hier in Bremen zu sehen bekommen! Es mag vielleicht komisch klingen, da der Vergleich ja an sich eher anders rum sein müsste, aber die Formen erinnern mich an die Berge von Guilin in China.

Guilin
Und so gar nicht an dieses neue, runde Dolomiti Eis von Langnese, das durch seine Zacken auch seinen Charme verloren hat.
Soweit ist wirklich alles gut. Ich überhole mal wieder einen Haufen Leute, die ich alle schon in den letzten Tagen überholt habe – dann werde ich von anderen überholt, die mich auch bereits mehrmals zuvor haben stehen lassen. Da jeder, und so auch ich, am Berg sein eigenes Tempo fährt, komme ich alleine am Sella Pass an. Einer von drei Pässen ist im Sack.
Die folgende Abfahrt ist schnell und spektakulär. Noch besser als meine Lieblingsabfahrt überhaupt, Route 20 in Japan runter von Hakone nach Atami. David erzählt mir später, das er ein Foto von mir gemacht hat, wie ich abfahre, siehe hier drunter. Man kann dem Foto allerdings nicht anhören, dass ich die ganze Zeit vor Glück schreie! „Yippie! Yeaahhhhh“ und wenn ich ganz übermütig drauf bin, dann singe ich „Yeah Yeah Yeah“ von den Rezillos.
Leider: Wie immer gibt es diese widerlichen Radpinkler an der Straßenseite, die die ganze Umwelt versauen.
Es war aber spektakulär und für mich persönlich der Höhepunkt der Tour. Landschaft …wirklich überall.
Und so ging es weiter, rauf und runter: den Pradoi Pass hoch, den Campolongo Pass hoch und dann in die letzte Abfahrt nach Corvara bevor der Rennteil der Etappe begann. Klar, ich war schon ziemlich müde, aber für den Rennteil hatte ich mir noch ein wenig Saft aufbewahrt.9 km mit 600 Meter Steigung waren im Vergleich zu den sehr steilen Anstiegen der ersten beiden Tage auch recht moderat. Tja, wäre man nicht schon 100 km in den Bergen gefahren.
Ich ga also ein wenig Gas, nachdem ich das Zeitmessungstor durchquert hatte und machte mich auf den Weg hoch zum Grödnerjoch. Leider hört dann auch das Betrachten der Landschaft völlig auf, ich kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern was um mich herum geschah. Nach etwa 2/3 der Strecke gab es eine Verpflegungsstation. Jemand rief „The caldo“ und da ich gerade nicht bei Sinnen war und mein italienisch ohnehin nicht so gut ist, dachte ich für einen falschen Moment, dass „Caldo“ kalt ist (Nein – ist warm) und das ein Tee jetzt gerade richtig wäre (Nein, auch das nicht). Ich nahm einen Becher und einen Schluck der augenblicklich meine Mundhöhle in eine überzuckerte, glühende Hölle verwandelte. Ich konnte das Zeuch gerade noch ausspucken, der Becher flog hinterher, aber den Geschmack konnte ich bis oben zum Pass nicht mehr los werden. Es war der Geschmack der Kindheit, wenn man mit Fieber im Bett liegt und die Mutter einem einen heißen Tee bringt, um wieder gesunde zu werden. Alleine die Erinnerung an die eigenen Kinderkrankheiten liess meine Leistung um 50% einbrechen. Na ja, oben reichte es doch noch für einen Spurt und dann ganz schnell runter nach Wolkenstein wo das Essen auf uns wartete.
Es ging dann die Strasse zurück, die wir auch gekommen waren. Ich hatte keine Lust im Puk runter zu fahren und so machte ich mich heimlich nach dem Essen davon, umging die Streckenposten und fuhr im Verkehr die Strecke alleine zurück bis zum Beginn des flachen Stückes nach Bozen rein. Es war so gut wie kein Verkehr da und ich wurde belohnt mit einer herrlichen und schnellen Abfahrt. Ich war nicht der einzige, ich traf hier und dort auch noch ein paar andere Fahrer.
Dann ging es im Pulk und im gesperrten Verkehr, wieder perfekt organisiert nach Bozen rein. Ehrlich gesagt habe ich nicht die geringste Ahnung, was wir am Abend gemacht haben, vielleicht kann jemand aushelfen? Ah ja, wir waren Pizza essen in der Stadt und verabschiedeten Thomas, der am nächsten Tag durch Jochen ersetzt wurde.
Der nächste Tag war nun endlich ein Ruhetag und den hatten wir uns auch wirklich verdient.
Demnächst mehr.